Logo Startseite Inhaltsverzeichnis



PRIMÄRTEXTE
Autoren: Bembo || Brockes || Goethe || Greiffenberg || Gryphius || Hoffmannswaldau || Lehmann || Meyer || Opitz I || Opitz II || Petrarca || Rilke || Thomkins || Trakl


Pietro Bembo

5. SONETT DER "RIME"

Crin d’oro crespo e d’ambra tersa e pura
ch’a l’aura su la neve ondeggi e vole,
occhi soavi e più chiari che ’l sole,
da far giorno seren la notte oscura,

riso, ch’acqueta ogni aspra pena e dura,
rubini e perle, ond’escono parole
sì dolci, ch’altro ben l’alma non vòle,
man d’avorio, che i cor distringe e fura,

cantar, che sembra d’armonia divina,
senno maturo a la più verde etade,
leggiadria non veduta unqua fra noi,

giunta a somma beltà somma onestade,
fur l’esca del mio foco, e sono in voi
grazie, ch’a poche il ciel largo destina.


Übersetzung von Hans-Jürgen Schlütter:

Haar aus gekräuseltem Gold und aus reinem und klarem Bernstein,
das in der Luft über dem Schnee wogt und schwebt,
Augen, süß und heller als die Sonne,
[geeignet] um die dunkle Nacht zu hellem Tag zu machen,

Lachen, das alle rauhe und harte Pein stillt,
Rubine und Perlen, aus denen Worte hervorkommen
so süß, daß die Seele kein anderes Gut will,
Hand aus Elfenbein, die das Herz zerreißt und raubt,

Singen, das wie die göttliche Harmonie ist,
reifer Geist im grünsten Alter,
Anmut, niemals unter uns [Menschen] gesehen,

verbunden mit höchster Schönheit höchste Züchtigkeit,
waren Speise meines Feuers und es sind in Euch
Gnaden, die der weite Himmel nur wenigen [Frauen] zuteil werden läßt.


In: Hans-Jürgen Schlütter: Sonett. Mit Beiträgen von Raimund Borgmeier und Heinz Willi Wittschier. Stuttgart 1979, S. 32 f.
Eine ganze Bembo-Internetseite hat die Adresse http://www.mackerel.com/bembo/home.html




Barthold Heinrich Brockes

DIE HEIDE

Es zeigt so gar die dürre Heide,
Zu unsrer nicht geringen Freude,
Wenn man sie recht genau betracht,
Des großen Schöpfers Wunder-Macht.

Wenn wir die obenhin besehn,
So scheint sie traurig, schwarz, verdorrt und schlecht:
Allein betrachtet man sie recht;
So ist auch sie nicht minder schön,
Und sieht man wunderbar in ihr
Der Farben Pracht, der Bildung Zier
Fast unverbesserlich verbunden.

Ich habe dieses wahr befunden.
Denn als ich jüngst mich etwas zu vertreten,
Mich auf das Feld begab; befand ich alsobald,
Daß in des Heide-Krauts so zierlicher Gestalt,
Nicht weniger als sonst, der Schöpfer anzubeten.

Ich setzte mich, und rupfte manchen Strauß,
Sie besser zu besehen, aus.
Mein Gott! wie viel, wie mancherley
Verändrung, Schmuck und Zierlichkeiten
Fand ich in diesem Kraut, das doch von weiten
Nicht anders lässt, als obs nur braun gefärbet sey.
Ich ward zugleicg, wie schön, wie wunderbar.
Wie mannigfaltig die Bildung sey, gewahr.

Die größten Bäume trifft man hier
In solcher Schön- und netten Kleinheit an,
Daß man der Stämme Zweig' und Blätter holde Zier
Nicht gnug besehn, nicht gnug bewundern kann.
Ich fand daß ob sie gleich sehr klein,
Die Stämme wahres Holz, wie große Stämme, seyn.
Es hat die Festigkeit, es brennet, eine Rinde
Umgiebt sie, ja ich finde
Dieselbe recht mit Moß, gleich den bejahrten Eichen,
Umgeben und geziert. Die Blümchen, die so schön,
Auf jedem kleinem Zweig', als Apfel-Blüthe, stehn,
Sieht man der Bienen Heer die süße Nahrung reichen.

Betrachte denn forthin, geliebter Mensch, die Heide
Nicht sonder Gottes Lob, nicht sonder Freude!


In: Irdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten, Hamburg 1739.




Johann Wolfgang
von Goethe:


ES SCHLUG MEIN HERZ ...

Es schlug mein Herz. Geschwind, zu Pferde!
Und fort, wild wie ein Held zur Schlacht.
Der Abend wiegte schon die Erde,
Und an den Bergen hing die Nacht.
Schon stund im Nebelkleid die Eiche
Wie ein getürmter Riese da,
Wo Finsternis aus dem Gesträuche
Mit hundert schwarzen Augen sah.

Der Mond von einem Wolkenhügel
Sah schläfrig aus dem Duft hervor,
Die Winde schwangen leise Flügel,
Umsausten schauerlich mein Ohr.
Die Nacht schuf tausend Ungeheuer,
Doch tausendfacher war mein Mut,
Mein Geist war ein verzehrender Feuer,
Mein ganzes Herz zerfloß in Glut.

Ich sah dich, und die milde Freude
Floß aus dem süßen Blick auf mich.
Ganz war mein Herz an deiner Seite,
Und jeder Atemzug für dich.
Ein rosenfarbes Frühlingswetter
Lag auf dem lieblichen Gesicht
Und Zärtlichkeit für mich, ihr Götter,
Ich hofft’ es, ich verdient’ es nicht.

Der Abschied, wie bedrängt, wie trübe!
Aus deinen Blicken sprach dein Herz.
In deinen Küssen welche Liebe,
O welche Wonne, welcher Schmerz!
Du gingst, ich stund und sah zur Erden
Und sah Dir nach mit nassen Blick.
Und doch, welch Glück, geliebt zu werden,
Und lieben, Götter welch ein Glück!



In: Goethes Werke. Bd. 1. Gedichte und Epen. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz. München 11 1978. (Texte nach der "Hamburger Ausgabe"), S. 27f.



Catharina Regina
von Greiffenberg:


'KREUZGEDICHT'

Seht der könig könig hängen!
und uns all mitt blutt besprängen
auss der dörner wunden bronnen
ist All unsser heyl geronnen
seine augen schliest Er sacht!
und den Himmel uns aufmacht
Seht Er Streket Seine Hend auss uns freundlichst Zuentfangen!
Hatt an sein Liebheisses Herz uns zu drüken brünst verlangen!
Ja Er neigt sein liebstes haubt uns begihrlichest zu küssen
All Sein Sinn gebärd und werk seyn zu unser Heyl geflissen!
Seiner seitten offen stehen
Macht seyn güttig Herze sehen!
Wann Wir schauen mitt den Sinnen
Sehen Wir uns selbst darinnen!
So Viel striemen so Viel Wunden
Alss an seinen leib gefunden
So Viel Sieg und Segen kwellen
Wollt’ er unser seel bestellen,
Zwischen Himel und der Erden
wollt’ Er auf geopfert werden
Dass Er gott und uns verglihen
uns Zu sterken Er Verblihen
Ja sein sterben hatt das Leben
Mir und Aller Weltt gegeben!
Jesu’ Christ dein Tod und schmerzen
Leb’ und schweb’ mir stett im Herzen!



In: buchstäblich Nürnberger wörtliche Tage. Dokumentation von Aktionen und Vorträgen anläßlich der Ausstellung >buchstäblich wörtlich - wörtlich buchstäblich< in der Kunsthalle Nürnberg im Juni und Juli 1989, hrsg.b. Michael Glasmeier u. Lucius Grisebach, Nürnberg 1990, S. 53 (Nr.21).




Andreas Gryphius:

‘REIß ERDE! REIß ENTZWEY!’

Psal. LXXI. v 20. Quantas ostendisti
mihi tribulationes multas & magnas,
&& conversus vivificasti me!*


REiß Erde! reiß entzwey! Ihr Berge brecht und decket
Den gantz verzagten Geist!
Den Blitz und Ach und Noth / und Angst / und Weh’ erschrecket!
Vnd herbe Wehmut beist!
Ihr immerlichten staetter Himmel Lichter!
Ach bescheinet meine Glider! ach bescheint die Glider nicht!
Die der Donnerkeil der Schmertzen / die die Krafft der Angst zubricht!
GOtt / gutter GOtt! Nur mir zu strenger Richter
Was laesset mich dein Grimm nicht sehen!
Was hoer ich nicht fuer Spott und Schmaehen?
Sind die Augen mir verlihen
Daß ich nichts als herbe Plagen / nichts als Marter schauen soll?
Taeglich rufft man mir die Ohren / ja die matte Seele voll!
Kan ich! kan ich nicht entflihen?
Kan die hell-besternte Nacht! kan mich nicht die Sonn erquicken?
Sol mich jde Morgenroett’ jder’ Abendstunde druecken?

GEGENSATZ.

Der dicke Nebel bricht in welchen sich verhuellet
Der alles hebt und haelt;
Der aller scharffe Pein und herbe Thraenen stillet /
Der Schoepffer diser Welt.
Er wendet sich und hoert nach meinem wimmern.
Vnd blaeßt mein erstarrte Leichen mit erneutem Leben an:
Daß ich / der schon erstummet / ihm mit Jauchtzen dancken kan.
Ich spuer’ umb mich sein edle Waechter schimmern.
Versteckt mich in des Abgrunds Gruende;
Vnd wo ich kaum mich selber finde /
Ja in Mittelpunct der Erden.
Er wird mich aus diser Tiffen / aus der unerschoepfften Klufft /
Aus der Hellen Hell’ erretten; mir sol aller Grueffte Grufft
Noch zum Ehren Schauplatz werden.
Jagt mich wo die Welt auffhoert / wo die kalten Lueffte ringen:
Wo das heisse Land verbrennt; Gott der wird mich wider bringen.

ZUSATZ

Der / der uns schuetzt’ in Noth /
Erweist an mir die Allmacht seiner Ehren!
Mein Ach! mein Tod ist todt.
Es muesse diß was etwas anhoert / hoeren.
Den / den was Athem holt / veracht /
Schmueckt er mit seiner Guete Pracht!
Der / der mir vor den Ruecken wandte:
Der mich in seinem Grimm verbrannte:
Kehret mir den suessen Mund / und die liben Augen zu
Er erquickt mein Hertz mit Trost und verspricht mir stille Ruh.
Keine Pein ist dem Ergetzten
Daß ich fuehle gleich zu schaetzen.


*Übs: Denn du lässest mich erfahren viele und große Angst, und machst mich wieder lebendig. (Bei Gryphius Zählung der Vulgata: Psal. LXX.)


In: Gedichte. Eine Auswahl, hrsg. v. Adalbert Elschenbroich, Stuttgart 1968 (= Reclams UB 8799/8800), S. 94-96.




Christian Hoffmann
von Hoffmannswaldau:


SONNET.
BESCHREIBUNG VOLLKOMMENER SCHÖNHEIT.

EIn haar so kühnlich trotz der Berenice spricht /
Ein mund / der rosen führt und perlen in sich heget /
Ein zünglein / so ein gifft vor tausend hertzen träget /
Zwo brüste / wo rubin durch alabaster bricht /
Ein hals / der schwanen-schnee weit weit zurücke sticht /
Zwey wangen / wo die pracht der Flora sich beweget /
Ein blick / der blitze führt und männer niederleget /
Zwey armen / derer krafft offt leuen hingericht /
Ein hertz / aus welchem nichts als mein verderben quillet /
Ein wort / so himmlisch ist / und mich verdammen kan /
Zwey hände / derer grimm mich in den bann gethan /
Und durch ein süsses gifft die seele selbst umhüllet /
Ein zierrath / wie es scheint / im paradieß gemacht /
Hat mich um meinen witz und meine freyheit bracht.



In: Gedichte des Barock, hrsg. von Ulrich Maché und Volker Meid. Stuttgart 1980, S. 276f.




Wilhelm Lehmann

SIGNALE

Seewärts hör ich Signale tuten:
Sie schießen die Torpedos ein.
Auf fernen Meeren, nah dem Ohre,
Gesprengter Leiber letztes Schrein.

Der Märzwind greift den Wandernden,
Ich gleite wie auf Flügelschuhn;
Dann bin ich selbst ihm aufgestiegen
Und kann auf seinem Rücken ruhn.

Ein Girren streicht um meine Kniee,
Ein Rebhahn schwirrt am Kleinbahndamm.
Vor augerauhter Schlehdornhecke
Säugt Mutterschaf sein erstes Lamm.

Hör ich noch die Signale rufen?
Sie wurden Klang von Roncevalles:
Woran die Herzen eins zersprangen,
Schwebt echoleicht als Hörnerschall.

Mich feit der süße Augenblick.
Die Zügel häng ich ins Genick
Dem Windpferd, daß es schweifend grase.
Huflattich blüht, es springt der Hase.

Die Wolken bauen Pyrenäen,
Der Erdgeist denkt die Vogelreise:
Und ohne daß sie wissen, zucken
In Aufbruchslust die Kuckuckszehen.

Sie landen, höhren Flugs getragen
Als ich Schrapnells, Granaten wagen.

Ob draußen noch Signale tuten?
Schießt man noch die Torpedos ein?
Schreckt noch das Ohr auf fernen Meeren
Zerfetzter Leiber Todesschrein?

Tief innen übte sich inzwischen
Gesang, der Thebens Mauern baute.
Fang an mit zwiegespaltnem Laute:
Und "heile, heile, heile!" tönt es,
Kuckuck! Kein Fluch der Erde höhnt es.

Granaten und Schrapnells verzischen.


In: Der grüne Gott. Ein Versbuch, Heidelberg 1948.



Conrad Ferdinand Meyer

DER RÖMISCHE BRUNNEN

Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.


Conrad Ferdinand Meyer: Der römische Brunnen. In: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, hrsg. v. Hans Zeller u. Alfred Zäch, Bd.1, Bern 1963, S. 170.




Francesco Petrarca

90. SONETT DES "CANZONIERE"

Erano i capei d’oro a l’aura sparsi,
che ‘n mille dolci nodi gli avolgea,
e ‘l vago lume oltra misura ardea
di quei begli occhi ch’or ne son sì scarsi,

e ’l viso di pietosi color farsi,
non so se vero o falso, mi parea:
i’ che l’esca amorosa al petto avea,
qual meraviglia se di subito arsi?

Non era l’andar suo cosa mortale
ma d’angelica forma, e le parole
sonavan altro che pur voce umana;

uno spirto celeste, un vivo sole
fu quel ch’ i’ vidi, e se non fosse or tale
piaga per allentar d’arco non sana.


Übersetzung:

Es waren die Haare aus Gold in der Luft ausgebreitet,
die zu tausend süßen Knoten sie verstrickte,
und maßlos brannte das liebliche Licht
jener schönen Augen, die jetzt so wenig davon geben;

und das Gesicht nahm mitleidsvolle Farben an
- ich weiß nicht, ob echt oder falsch -, mir schien es [so]:
Ich, der ich den Liebesköder in der Brust hatte,
was wundert’s, wenn ich sofort entflammte?

Nicht war ihr Gang der einer Sterblichen,
sondern engelhafter Art, und die Worte
klangen anders als von bloß menschlicher Stimme;

ein himmlisches Wesen, eine lebendige Sonne
war das was ich sah, und wenn sie auch jetzt nicht [mehr] so wäre:
[Eine] Wunde heilt durch Lockerung des Bogens nicht!


In: Hans-Jürgen Schlütter: Sonett. Mit Beiträgen von Raimund Borgmeier und Heinz Willi Wittschier. Stuttgart 1979, S. 28.
Ein weiteres Sonett aus dem "Canzoniere" (Sonett 188) mit einer Interpretation findet sich unter http://italia.hum.utah.edu/nanda/scrivere/GUIDA/4anatx.htm
Ein Portrait Petrarcas findet sich unter http://www.diel.it/helios/96/6/petrarca.html




Martin Opitz

VOM WOLFFESBRUNNEN BEY HEIDELBERG

DV edler Brunnen du / mit Rhu vnd Lust vmbgeben
Mit Bergen hier vnd da als einer Burg vmbringt /
Printz aller schönen Quell' / aus welchem Wasser dringt
Anmutiger dann Milch / vnnd köstlicher dann Reben /
Da vnsres Landes Kron' vnd Häupt mit seinem Leben /
Der werthen Nymph' / offt selbst die lange Zeit verbringt /
Da das Geflügel jhr zu Ehren lieblich singt /
Da nur Ergetzlichkeit vnd keusche Wollust schweben /
Vergeblich bist du nicht in dieses grüne Thal
Beschlossen von Gebirg' vnd Klippen vberall:
Die künstliche Natur hat darumb dich vmbfangen
Mit Felsen vnd Gepüsch' / auff daß man wissen soll
Daß alle Fröligkeit sey Müh' vnd Arbeit voll /
Vnd daß auch nichts so schön / es sey schwer zu erlangen.


Opitz, Martin: Vom Wolffesbrunnen bey Heidelberg. In: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe, hrsg. v. George Schulz-Behrend, Bd. II, 2. Teil. Die Werke von 1621 bis 1626. Stuttgart 1979 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart, Bd. 301), S. 691f.



Martin Opitz

ACH LIEBSTE LASS VNS EILEN


LIEDTH/
im thon: Ma belle je vous prie

Ach Liebste laß vns eilen Wir haben Zeit:
     es schadet das verweilen Vns beider seit.
Der schönen Schönheit gaben Fliehn fuß für fuß
     Daß alles / was wir haben / Verschwinden muß /
Der Wangen zier verbleichet / Das Haar wird greiß /
     Der äuglein fewer weichet / Die flamm wird Eiß
Das Mündlein von Corallen / Wird vngestallt
     Die Händ / alß Schnee verfallen / Vnd du wirst Alt.
Drumb laß vns jetzt geniessen Der Jugent frucht /
     Eh dann wir folgen müssen Der Jahre flucht
Wo du dich selber liebest / So liebe mich /
     Gib mir / daß / wann du gibest / Verlier auch ich


Opitz, Martin: Ach Liebste laß vns eilen. In: Epochen der deutschen Lyrik. Bd. 4. Gedichte 1600-1700, hrsg. von Christian Wagenknecht. München 1969, S. 56.




André Thomkins

lunds wandlungen
bis zum letzten atemzug anagrammiert.
(hold-up & kreuzigung)

W A N D L U N G E N

"W U N G",L A N D E N!
L U N D G E W A N N
N U N L A N D W E G.

L U G E N D, W A N N
W U N D A N G E L N
G E N W A L D N U N
"G U N"-W A N D E L N.

W A L D N U N E N G;
L E G N U N W A N D,
W E N N L A D U N G
G U L D W A H N E N,

W A N N G E L D N U,
W A N N G U L D E N
G E W A N N L U N D.

+
N U N D E N W A L G

     G
     N
W U N D N A G E L N
     L
     U
     D
     N
     N
     E
     W

D A N G E L-W U N N
W U N G E L-D A N N
+



In: konkrete poesie. deutschsprachige autoren. Anthologie, hrsg. v. Eugen Gomringer, Stuttgart 1972 (Reclam UB 9350), S.[134].



Georg Trakl

PSALM
2. Fassung
Karl Kraus zugeeignet

Es ist ein Licht, das der Wind ausgelöscht hat.
Es ist ein Heidekrug, den am Nachmittag ein Betrunkener verläßt.
Es ist ein Weinberg, verbrannt und schwarz mit Löchern voll Spinnen.
Es ist ein Raum, den sie mit Milch getüncht haben.
Der Wahnsinnige ist gestorben. Es ist eine Insel in der Südsee,
Den Sonnengott zu empfangen. Man rührt die Trommeln.
Die Männer führen kriegerische Tänze auf.
Die Frauen wiegen die Hüften in Schlinggewächsen und Feuerblumen,
Wenn das Meer singt. O unser verlorenes Paradies.

Die Nymphen haben die goldenen Wälder verlassen.
Man begräbt den Fremden. Dann hebt ein Flimmerregen an.
Der Sohn des Pan erscheint in Gestalt eines Erdarbeiters,
Der den Mittag am glühenden Asphalt verschläft.
Es sind kleine Mädchen in einem Hof in Kleidchen voll herzzerreißender Armut!
Es sind Zimmer, erfüllt von Akkorden und Sonaten.
Es sind Schatten, die sich vor einem erblindeten Spiegel umarmen.
An den Fenstern des Spitals wärmen sich Genesende.
Ein weißer Dampfer am Kanal trägt blutige Seuchen herauf.

Die fremde Schwester erscheint wieder in jemands bösen Träumen.
Ruhend im Haselgebüsch spielt sie mit seinen Sternen.
Der Student, vielleicht ein Doppelgänger, schaut ihr lange vom Fenster nach.
Hinter ihm steht sein toter Bruder, oder er geht die alte Wendeltreppe herab.
Im Dunkel brauner Kastanien verblaßt die Gestalt des jungen Novizen.
Der Garten ist im Abend. Im Kreuzgang flattern die Fledermäuse umher.
Die Kinder des Hausmeisters hören zu spielen auf und suchen das Gold des Himmels.
Endakkorde eines Quartetts. Die kleine Blinde läuft zitternd durch die Allee,
Und später tastet ihr Schatten an kalten Mauern hin, umgeben von Märchen und heiligen Legenden.

Es ist ein leeres Boot, das am Abend den schwarzen Kanal heruntertreibt.
In der Düsternis des alten Asyls verfallen menschliche Ruinen.
Die toten Waisen liegen an der Gartenmauer.
Aus grauen Zimmern treten Engel mit kotgefleckten Flügeln.
Würmer tropfen von ihren vergilbten Lidern.
Der Platz vor der Kirche ist finster und schweigsam, wie in den Tagen der Kindheit.
Auf silbernen Sohlen gleiten frühere Leben vorbei
Und die Schatten der Verdammten steigen zu den seufzenden Wassern nieder.
In seinem Grab spielt der weiße Magier mit seinen Schlangen.

Schweigsam über der Schädelstätte öffnen sich Gottes goldene Augen.


In: Dichtungen und Briefe. Historisch-Kritische Ausgabe, hrsg. v. Walther Killy u. Hans Szklenar, Bd.1, Salzburg 1969, S.55f.