U. Johnson von Andreas
Lemberg
Last and
Final.
Über das Ende der
Jahrestage
von Holger
Helbig
Zum
zweiten Teil
What might have been and what has been
Point to one end, which is always present.
T.S. Eliot, Four Quartets
In einem Brief zum 70. Geburtstag von Otto Hamkens, einem
Buchhändler von der Sorte, die vom Aussterben bedroht ist,
fällt Uwe Johnson etwas auf. "Es fällt mir jetzt auf,
dass ein Anfang meiner 'Jahrestage' sich ereignet
gegenüber dem Priwall",1 schreibt
er dem in Lübeck wohnenden Jubilar. Nun ist bekannt,
daß die Jahrestage nicht nur einen Anfang
haben. Am Priwall beginnt im August 1931, was nach einer
Liebesgeschichte aussieht. Da war die zweitjüngste von den
Töchtern Papenbrocks fünfundzwanzig Jahre alt. "Sie
allein hatte gemerkt, daß der Mann, der sie
ebenmäßig ohne ein Nicken beobachtete, ihnen
nachgegangen war von der Priwallfähre bis an den
nächsten freien Gartentisch."2 Noch am
selben Abend "fuhr Cresspahl mit einem gemieteten Auto
zurück nach Mecklenburg, über den Priwall, entlang der
Pötenitzer Wiek, entlang der Küste nach Jerichow" (JT,
18). Dies findet sich unter dem Datum des 23. August 1967, im
dritten datierten Eintrag. Erst hier beginnt formal die
vermeintliche Erzählung Gesines, das ist am Erzählton
deutlich zu hören.3
Aber der Roman beginnt früher. Er beginnt mit etwas, das
Ulrich Fries "a chapter without a date" genannt hat, ein
undatiertes Kapitel, in dem wichtige Motive und Themen
präludiert werden.4 Erst
danach beginnt die Datierung. Der Roman hat also, strenggenommen,
zwei Anfänge. Zumindest zwei, folgt man Johnson. Kommt ein
solches Buch mit einem Ende aus?
Die Datierung des letzten Tages ist dazu angetan, Verdacht zu
erregen: "20. August, 1968 Last and Final" (JT, 1888). Zwei Enden
an einem Tag? Die Übersetzung für den Kommentar wird
wohl "Zuletzt und endgültig" lauten. Zur Begründung
dieser Übertragung ist anzuführen, daß es
für das deutsche "schließlich und endlich" eine
englische Redewendung gibt, at long last, was ja nicht
ausschließt, daß auch "last and final" eine
idiomatische Wendung ist. Man könnte sich auf das Wort
"letztendlich" einigen, aber die Anstrengung, die beiden
Bedeutungskomponenten in einem Wort zu erkennen, kommt etwa der
gleich, aus dem Wort "Jahrestage" oder gar "Anniversaries"
herauszulesen, es handle sich um alle Tage eines Jahres. Das
Wörterbuch führt "last" auch als Synonym zu "final" in
der Bedeutung von: "leaving nothing more to be said or done".5 Eben dieses Moment von Endgültigkeit
hebt den letzten Tag aus der Reihe der ihm vorangehenden 365 Tage
heraus. Wäre er wie diese auch, und fiele das Ende gerade
auf ihn, nur weil das Erzählen vor einem Jahr begonnen
wurde: er wäre halt der letzte Tag: the last one. Das ist er
auch. Auch: durch Zwang des Kalenders, als Konsequenz der
Struktur. An dem "last" wird deutlich, daß die Entscheidung
für eine bestimmte Form notwendig inhaltliche Konsequenzen
hat. Hat ein Roman einen Anfang, dann hat er auch ein Ende. Oder
bräuchte ausgerechnet dieser Roman eigentlich gar
keinen Schluß, wie Christoph Brecht wohlberechnet
provokativ vermutet? "Das Erzählen ist am Ende, wenn das
Jahr vorüber ist":6 wenn das
so einfach wäre. Schon der Umstand, daß es sich um
ausgerechnet ein Jahr handelt, ist nur konzeptionell zu
erklären, durch eine wie auch immer geartete theoretische
Überlegung, und nicht aus der Handlung heraus. Wiewohl
Johnson auch hier vorgesorgt hat, indem Gesine dem Genossen
Schriftsteller nur genau ein Jahr zur Beschreibung zur
Verfügung gestellt hat,7 scheitert
sein Bemühen an dem, was man die entschieden romanhafte
Konstruktion, den "hochliterarischen Zufall"8 nennen könnte. Wo der Zufall
sowjetische Truppen am 20. August 1968 in Prag einmarschieren
läßt und so einem Roman zu Hilfe kommt, auf dessen
ersten Seiten bereits von einem Toten in Prag die Rede ist, in
Prag, dem keinesfalls zufälligen Reiseziel der beiden
Hauptfiguren, wird jede Interpretation beliebig. Der Roman, das
ist vorerst nicht mehr als eine These, die die Wahrscheinlichkeit
auf ihrer Seite hat, ist von seinem Ende her gedacht. Einzig von
dort aus läßt sich erklären, weshalb der erste
datierte Tag auf den 21. August 1967 fällt. Etwas anderes zu
behaupten (und tatsächlich steht zumindest eine solche
Andeutung auf der allerletzten Seite der Jahrestage),
hieße, die historische Dimension des Romans in Zweifel zu
ziehen.
Johnson hat versucht, das eine zu tun und das andere zu lassen.
Dem Roman sind zwei Daten nachgestellt, die den Arbeitszeitraum
bezeichnen: "29. Januar 1968, New York, N.Y. - 17. April 1983,
Sheerness, Kent" (JT, 1892). Dasselbe Datum für den
Schreibbeginn gibt er in den Begleitumständen an,
räumt ein, sich schon früher Notizen gemacht zu haben,
und demonstriert Ahnungslosigkeit: "So wurde der 20. August 1967
der Tag für das erste Kapitel, ohne Ahnung von dem, der ihm
gegenüberstehen sollte binnen Jahresfrist."9 Auch das berühmte Treffen mit Mrs.
Cresspahl "auf der Südseite der 42. Strasse" (BU, 406)
läßt sich genau datieren: es war der 18. April 1967.
Dieser Tag liegt ebenfalls vor dem Beginn des Schreibens,
fällt nicht mit ihm zusammen, als mythisches Ereignis etwa.
Gewonnen ist mit dieser Feststellung freilich nichts, denn
ohnehin ist das nachgestellte Datum kaum fiktionsrelevant. Es ist
eben nur, daß der 29. Januar 1968 einer der Tage der
Jahrestage ist - vom Beginn des Schreibens ist ihm nichts
anzumerken. Für die Deutung allerdings äußert
sich darin, was man das Beharren auf der Fiktion nennen
könnte, und das verdient bei einem derart
geschichtsträchtigen Roman denn doch Beachtung.10
Es sei zumindest erwähnt, wie Johnson versucht, das andere
zu lassen; mehr noch, wie er ausdrücklich auf jene
historische Dimension verweist, ebenfalls in den
Begleitumständen: "Der 20. August 1968, der Einmarsch
sowjetischer Truppen in die Sozialistische Tschechoslowakei ab 23
Uhr, das Verstummen von Radio Prag gegen 1:30 Uhr am folgenden
Morgen, es war die endgültige Auskunft und Bestätigung
für die Richtung, in die die geplante Erzählung zu
einem Ende gedrückt worden war" (BU, 426).
Worin also besteht das Ende, das Finale? Was an diesem Tag kann
Gültigkeit beanspruchen, was kann einstehen für alle
gewesenen Tage - und für die kommenden? Die letzte Frage
ließe sich auch anders, nämlich hintersinnig, stellen:
Wie, auf welche Art und Weise, wird auf dieses doppelte Ende hin
erzählt?
Die letzten vier Zeilen der Jahrestage gehören zu
den meistzitierten des Romans. "Beim Gehen an der See gerieten
wir ins Wasser. Rasselnde Kiesel um die Knöchel. Wir hielten
einander an den Händen: ein Kind; ein Mann unterwegs an den
Ort wo die Toten sind; und sie, das Kind das ich war." (JT, 1891)
So hört das Ende auf, aber wo fängt es an?
Von den Seltsamkeiten des letzten Tages ist dies wohl die
auffälligste: Gesine übergibt Kliefoth - nennen wir es
für den Moment viel Papier: "Wie es uns ergeht, haben
wir aufgeschrieben bis zu unserer Arbeit in Prag, 1875 Seiten;
mit Ihrer Erlaubnis werden wir es Ihnen überreichen.
Nachzutragen sind an die zwei Stunden Flug in den Süden."
(JT, 1891)
Die Frage, warum der Satz im Präsens steht, und es nicht
heißt: wie es uns ergangen ist, wird vorerst
zurückgestellt. Denn wie es den beiden, Marie und Gesine,
ergangen ist, das ist in den Jahrestagen nachzulesen, mehr
noch, auch wie es Cresspahl und Jakob erging, von denen eben noch
die Rede war zwischen Kliefoth und Gesine, steht in diesem Roman.
Was übergeben wird, ist das Manuskript. Trägt man die
zwei Stunden nach, dann sind Gesine und Marie in Prag, dann
wären sie angekommen. Diese metafiktionale Inszenierung ist
der Abschluß des Versteckspiels mit dem Erzähler, aber
nicht nur das. Die Seitenzahl enthält einen Hinweis, sie
markiert den Anfang vom Ende. Ehe diese These belegt werden soll,
noch eine Anmerkung: Die Büchergilde Gutenberg hat 1992 eine
Lizenzausgabe der Jahrestage verlegt, und bei der
Gelegenheit den Text auf 788 Seiten und diese in zwei Bänden
untergebracht. Trotzdem ist auf Seite 787 derselbe Satz zu lesen,
der von den 1875 Seiten.11 Man
erfährt an dieser Stelle - im besten Falle - etwas über
den Umfang eines imaginären Manuskripts. Eigentlich
erfährt man etwas über die Lizenzausgaben der
Büchergilde Gutenberg.
Im Manuskript der Jahrestage, wie es im Johnson-Archiv
einzusehen ist, fehlt diese Zahl. Das belegt, daß der Autor
noch etwas vorhatte mit ihr, die Möglichkeit eines
imaginären Manuskripts kann ausgeschlossen werden.
Selbst die Fassung, die der Suhrkamp Verlag im Herbst 1984 an die
Rezensenten verschickte, enthält noch keine Zahl, sondern
drei dicke schwarze Punkte.
In der korrigierten Fahne, die Johnson an den Verlag gesandt hat,
steht neben der freigelassenen Stelle die Bemerkung "Nummer der
Seite, auf der die Punkte erscheinen".12
Was bedeutet, daß er ursprünglich, die Seitenzahl
1891, also die letzte der Druckfassung, einsetzen lassen wollte.
Hier wird das Spiel mit der Fiktion ganz deutlich; daß es
bei dieser Zahl nicht geblieben ist, belegt, daß Johnson
dem Spiel noch einen Sinn abzugewinnen wußte.13
Am 17. August, drei Tage vor der Abreise, bekommt Gesine
bestätigt, es bedürfe erheblichen Mutes, auf
Sicherungen zu verzichten; "obgleich das nach den Erfahrungen
Ihres Lebens aussehen könnte wie Fahrlässigkeit" (JT,
1857). So schreibt ihr ein Psychologe, das Schreiben ist mit A.M.
gezeichnet. Er hält sie für "gerüstet für
eine Arbeit in einem Ausland, in Prag" (ebd.). Der Abschnitt
schließt zuversichtlich: "Wenn am Tage nach Übermorgen
die Abgesandte einer new yorker Bank auftritt in der Hauptstadt
eines kleineren kommunistischen Landes, was ist denn dabei"
(ebd.). Der Satz steht im Präsens mit futurischer Bedeutung.
Daran schließt sich ein Stück Familiengeschichte
an.
Nach dem Bericht über Kollmorgens Eheringe und die
Anstrengungen Gesines, in Düsseldorf heimisch zu werden,
folgt ein Geständnis über eine Dienstfahrt in den
Osten. Den Lesern der Mutmassungen ist bereits bekannt,
was es mit dem Herrn Rohlfs auf sich hat. Gesine erzählt von
Jakobs Besuch in Düsseldorf. "Er hätte bleiben
können", sagt Marie.
"Was wir beredet haben für das Jahr danach bis 1983,
Veranstaltungen im Unsichtbaren, Aufbauten einer Zukunft, es sind
nunmehr Geschichten wie die, da fallen kleine Kinder in eine
Wassertonne; da hängt es an den Fäden einer Minute, ob
einer kommt und rettet sie" (JT, 1867). Die Hoffnung auf eine
gemeinsame Zukunft verwandelt in Geschichten, die besser nicht
erzählt werden; Cresspahl entscheidet nicht nur über
Jakobs Begräbnis. "Frau Abs und seiner Tochter gab er erst
Bescheid, als Jakob unter der Erde war" (JT, 1868). "Als der
Selbstmord mir verboten wurde, war er beinahe vergessen", gesteht
Gesine ihrer Tochter und nennt als Grund "eine kräftige
Person. Wenn ich ihr einen Finger in die Handfläche steckte,
machte sie eine Faust; einen Meter hoch im Freien schwebte sie an
ihrem festen Griff. Eine zufriedene Person, schlief ausdauernd,
wachte auf mit leisen Kehllauten." (ebd.) Marie. Etwas von jenen
"Aufbauten einer Zukunft" ist in Marie bewahrt.14 Aber nicht nur das.
Cresspahl, bald neunundsechzig, "steigt zum ersten Mal in ein
Flugzeug, einen Kontoauszug nach Düsseldorf zu bringen" (JT,
1870). Am Bett sitzend betrachtet er seine Erbin. Und von
Cresspahl gibt es mehr zu erben als nur zwei Haufen englisches
Geld. Frau Abs kommt in den Westen, nicht zu Gesine, sie will
allein leben und sterben; als Marie davon hört, fragt sie:
"Warum fehlt das in meiner Erinnerung?" (JT, 1871)
Dann ist die Rede von Cresspahl, der geht aus demselben Grund
zurück, der Frau Abs bleiben läßt. Er will beim
Sterben allein sein. Noch ist es nur Andeutung und Anspielung,
aber schon ausgesprochen: "Bi't sterben sünt wi all Meisters
un Lihrjungs. Er wollte das alleine abmachen." (ebd.) Und Marie
weiß schon, wie es weitergeht: "Unverhofft machst du dich
auf die Socken nach Amerika, ein schutzloses Kind unter dem Arm!
Gesine!" (JT, 1872) Gesine erklärt diesem vorlauten Kind die
Gründe für die Abreise, das Kind ist erstaunt:
"- Bis heute hast du mich glauben lassen, New York sei mein
Entschluß!
- Es ist dein Entwurf.", antwortet die Mutter. (JT, 1872) Das
Wort läßt aufhorchen, es wird noch zu verhandeln
sein.
Marie drängt die Mutter: "Jetzt sind wir im März 1961,
unterwegs nach NYC. New York City!" (JT, 1874) Die Erzählung
der Familiengeschichte bewegt sich auf den Ort zu, der sie
beherbergen wird. Der Ort, an dem das Erzählen beginnt.
Gesine erzählt noch von dem Besuch bei Anita in Berlin, von
dort aus flog sie mit Marie nach Paris. Marie kann das Ende der
Geschichte, die Abreise kaum erwarten, anders als damals:
- Und nun auf die France, ab nach New
York!
- Jedoch weiß ich von einem Kind, das konnte noch lange
aufzeichnen, wie die Möbel gestellt waren an den
Gartenfenstern von Düsseldorf. Das den Tränen nahe war,
wenn sie zurückdachte zu einem Kindergeburtstag, da sang ein
Chor: Du bist jetzt Drei! Du bist jetzt Drei!
- In New York wurde ich vier. Endlich sind wir angekommen, wo
meine Erinnerung Bescheid weiß. Welcome home! (JT,
1875)
Damit ist die Eintragung zu diesem Tag zu Ende: auf der Seite
1875. Die Erwähnung der Tode von Jakob, Frau Abs und
Cresspahl ist ein überdeutliches Signal für den
Abschluß der Geschichte. Nicht nur, weil es danach kaum
noch etwas zu erzählen gäbe, da die Protagonisten der
Geschichte nicht mehr zur Verfügung stehen. Von nun an
könnte auch Marie erzählen, worüber ihre
Erinnerung Bescheid weiß. Gesine hat an diesem Punkt die
Geschichte ihrer Familie an Marie überliefert. Dieses Ende
ist ein neuer Anfang: Marie. Doch noch ist der Roman nicht zu
Ende; die Aufbauten der Zukunft reichen über das Private
hinaus: Prag.
Ehe verfolgt werden soll, wie auf dieses Ende hin erzählt
wird, muß ausgesprochen sein, daß Welcome
home! zwei Heimaten meint. Es stand schon am Ende des
vorangegangen Tages, des 16. August. Gesine und Marie kamen von
ihrem Ausflug nach San Francisco und New Orleans zurück.
Unter den Flügeln einer DC-10 erblickten sie Manhattan. Und
Marie kommentierte: "Welcome home, Gesine!" (JT, 1855) Sie
begrüßte ihre Mutter in der Stadt, von der sie
annimmt, sie sei ihr ein zu Hause geworden. Am Ende des
nächsten Tages, wird, zur Unterscheidung, ausgesprochen,
worin das zu Hause besteht: wo meine Erinnerung Bescheid
weiß. Das meint den Ort New York als Vorrat fürs
Gedächtnis. Das ist die fast schon sprichwörtlich
gewordene Heimat im Vergangenen. New York wird - auch für
Marie - vergangen sein. Noch sind drei Tage Zeit. (Zumindest
beiläufig soll erwähnt sein, daß Johnson auch mit
der magischen Zahl umzugehen verstand.)15
Der erste dieser drei Tage, der 18. August, beginnt auf der
Seite 1875. Die Eintragung ist kurz, für die
Verhältnisse im vierten Band erstaunlich knapp.
Auffällig ist auch die Häufung der kurzen Sätze.
Wenn man aber erst einmal bemerkt hat, was sich in diesen
Sätzen ereignet, ist es nicht mehr weit zu der Behauptung,
dies sei eine der beeindruckendsten und zugleich
anrührendsten Passagen des Romans.
Cresspahls Tochter lebte in New York, als er starb im
Herbst 1962. Amerika ist mir zu weit zum Denken.
Fœundsœbentich is nauch.
Er versuchte auf dem Rücken liegend einzuschlafen. Er
wollte nahe genug am Morgen gefunden werden. Sie sollten keine
Mühe haben mit dem steifen Körper, weil er anders lag
als er liegen sollte im Sarg. Früher hatten sie solchen die
Knochen gebrochen. (ebd.)
Was hier erzählt wird, ist Cresspahls Tod. Cresspahls Tod
wurde schon einmal erzählt, unter dem Datum des 26.
September 1967, im ersten Band. Die beiden Sätze "Amerika
ist mir zu weit zum Denken. Fœundsœbentich is nauch."
signalisieren die Wiederholung, sie finden sich an beiden
Tagen.16 Der Spruch von den Meistern und
Lehrjungen ließ eine Erinnerung an den ersten Bericht von
Cresspahls Tod schon anklingen: "In Malchow wurde ein Meister
noch nur von Meistern auf den Wagen gesetzt und ins Grab
gelassen" (JT, 121). Bei der ersten Erwähnung seines Todes
wird berichtet, wie Cresspahl auf den Friedhof geht, um es ein
letzes Mal zu tun: "Zu Jakobs Grab ging er. Mit Jakob unterhielt
er sich. Na, Jakob. Und du? Ja Cresspahl. Sühst, ich lieg
hier zum Ansehen." (ebd.) Jakobs Freund Jöche schickte jeden
Morgen seine Frau zu Cresspahl, nach ihm sehen. "Ob ich wohl
lebe." Und Jöche hatte das Land nun doch umgegraben: "Gras
will er säen" (ebd.).
Am Ende des vierten Bandes wird das erste Ereignis zum zweiten
Mal erzählt, das ist, nach allem bisher Gesagten, nur
konsequent. Das Ende der von Gesine erzählten Geschichte ist
erreicht, ein erneutes Erzählen von der Vergangenheit
muß somit Wiederholung sein. Die Jahrestage werden
an dieser Stelle zu Cresspahls Buch: was mit der zweiten
Erzählung seines Todes an motivischer und symbolischer
Konstruktion vollendet wird, kann hier nur angedeutet werden.
Ulrich Fries schließt, nachdem er zuvor auf Benjamins
Erzähleraufsatz verwiesen hat, seine vorbildliche Analyse
der beiden Eintragungen mit der Feststellung: "Indem der Tod hier
fungiert als Grenze der Vergangenheitserzählung, aber auch
als eine die Gegenwartshandlung determinierende Instanz, stellt
er [...] die zentrale Vermittlungsinstanz zwischen Gegenwart und
Vergangenheit dar."17 Nur
scheinbar beschädigt eine solche Setzung den Anspruch,
"Geschichte, und nicht nur Familiengeschichten, erfahrbar zu
machen".18
Tatsächlich führt sie zur zentralen Frage, der nach dem
Geschichtsbild und seinem Einfluß auf das Erzählen.
Denn die erzählerische Kohärenz wird ja durch die
Wiederaufnahme nicht in Frage gestellt, im Gegenteil - und
hierher gehört der Verweis auf Benjamin -, der Tod
autorisiert das Erzählen. Nicht der Tod Cresspahls macht
weiteres Erzählen unmöglich, sondern die
Zerstörung einer Utopie.19
Auf Cresspahls Tod folgen die Abschiedsmotive, das letzte Wort
des Tages lautet "Abschied" (JT, 1876). Zuvor aber, als
Verbindung zwischen der Erinnerung an den Tod und dem
Erzählen vom Leben hat ein Satz eine Zeile ganz für
sich: "Den Tag noch einmal beginnen" (JT, 1876). Er ist nicht nur
quasi-mimetischer Bericht über Gesines Versuch, die Bilder
des Aufwachens zu verdrängen und sich ganz auf Maries
Abschiedsgesellschaft zu konzentrieren, sondern auch eine
Beschreibung für die Situation Gesines, trotz ihrer
bisherigen Erfahrungen sich auf die Reise nach Prag einzulassen.
Der Beginn des Tages läßt sich nicht wiederholen,
Gesine wird im Bewußtsein dieses Beginns einen neuen Anfang
suchen.
Am vorletzten Tag wird der Bogen vom Welcome home! bis
zur Abreise geschlagen, eine Reihung von Motiven und Episoden von
der Ankunft in New York im März 1961 bis zum Nachmittag des
19. August 1968. Es werden, um es auf den strukturalistischen
Punkt zu bringen, an zwei aufeinanderfolgenden Tagen Hin- und
Rückflug erzählt. Die den Roman beherrschenden Themen
werden aufgerufen, deutlich bis zur Überzeichnung: der
Vietnamkrieg, die Kubakrise, der Mauerbau, die Schuld an den
Juden. Der summarische Charakter, das schonungslose Bilanzieren
ist gerechtfertigt durch die bevorstehende Abreise. Der Blick
zurück beginnt mit "Als wir unterwegs waren nach den
Vereinigten Staaten" (JT, 1877), wird variiert durch "Als wir
ankamen" (JT, 1877) und reicht bis zum "Glück auf die Reise"
(JT; 1886) der Zollkontrolle. Der Wilsonbahnhof in Prag wird
erwähnt, der schon im ersten datierten Eintrag eine Rolle
spielte, und von Jakob ist die Rede, das Schlußbild wird
durch eine Erinnerung Gesines vorbereitet. Marie kommt in die
Bar, in der Mr McIntyre bediente, und betrachtet ihre Mutter
ernst und freundlich, wie Jakob es tat. "Dann gingen wir Hand in
Hand auf der abfallenden Straße dem Riverside Park
entgegen, und ich dachte zu leben genüge" (JT, 1882). Auch
das ist ein Abschied. Die Vokabel fällt erneut: "Die
Abschiede wurden schwierig" (JT, 1883), heißt es.
Über diese Zeit hätte auch Marie erzählen
können, es sind aber deutlich die Erinnerungen ihrer Mutter.
Marie denkt bei New York an anderes. "Marie ließ sich
unsere Tickets zeigen, überprüfte sie auf eine Buchung
zurück zu dem Ort, den zu verlassen uns bevorstand" (ebd.).
Gesine tut ihr den Gefallen, wie sie auch Robinson Adlerauges
Verdacht zerstreut, sie gäbe eine Wohnung auf. "Am Klingeln
des Telefons können Sie hören, daß wir ein
Lebensrecht behalten möchten am Riverside Drive" (JT, 1886).
Die Motive sprechen dagegen. Der Bahnhof Grand Central
signalisierte im "chapter without a date" die Ankunft, nun steht
er für die Abreise. Auch die Lexington Avenue wird noch
einmal erwähnt, aber: "Wir gehen in der falschen Richtung
[...]" (JT, 1887). Schließlich der Flughafen. "Please
proceed to the gate now. Begeben Sie sich zum Ausgang" (ebd.),
sind die letzten Sätze des 19. August, die beiden haben bis
zum letzten Aufruf gewartet. "Bis sie sagen werden, dies sei der
letzte, der endgültige Aufruf zum Betreten der Flugmaschine"
(ebd.). Der letzte, der endgültige: last and final.
Am letzten Tag liest Gesine nicht in der New York Times. Die
Stadt, die zu der Zeitung gehört, hat sie am Vortag zusammen
mit ihrer Tochter verlassen. Sie sind nicht mehr, wo sie
herkommen, aber auch noch nicht dort, wo sie hinwollen. Sie sind
unterwegs, auf der Reise, bewegen sich auf ein Ziel zu. Zu
erzählen wäre also noch die Ankunft.
Nicht zufällig liest sich die Eröffnung des 20. August
wie eine Regieanweisung: "In einem Badehotel an der
dänischen Küste, Schweden gegenüber. In einem
Speisezimmer für Familienbegebnisse; Rohrmöbel,
Damasttischtuch. Im Garten, hinter dem Gebüsch zur
Promenade. Am Strand. Von zwölf bis sechzehn Uhr." (JT,
1888) Entworfen wird ein Bild, eine Szene, die dem
erzählerischen Moment entspricht, ganz im Sinne des Wortes:
eine Momentaufnahme. Ein Tableaux zwischen Abreise und Ankunft,
das sich seinerseits aus einzelnen Aufnahmen zusammensetzt. Die
Fragmente, Gesprächsfetzen und einzelne Sätze, werden
äußerlich durch die vorangestellten Regieanweisungen
zusammengehalten.
Die Begründung für diese Art von Darstellung
ließe sich ganz aus dem situativen Kontext entwickeln, die
Geschichte wird angehalten, ehe sie ihr Ziel erreicht. Es soll
aber, wie eingangs versprochen, gezeigt werden, daß die
Konstruktion des Romans notwendig auf dieses Ende
hinausläuft, daß jedes denkbare andere Ende die
Vollendung der Konzeption gefährdet hätte. Und es soll
dabei weniger spekulativ zugehen, als diese Formulierung vermuten
läßt.
In den letzten vier Stunden treten auf: "Ein elfjähriges
Kind, das vor Müdigkeit leise spricht, matt. Eine Dame um
die Fündunddreißig, die hinter Marie die Treppe
hinuntersteigt, vorfreudig, weil zum Empfang gerufen." (ebd.)
Anita tritt nicht auf. Stattdessen ein Herr.
Ein Herr steht auf der Terrasse, geschrumpft,
eigenwillig aufrecht, schwarzweiß gekleidet, unter
schlohweißen Haaren, mit erhobenen Armen kostet er den
Empfang aus, ein Rabe, der seine Bewegung verbergen will.
(ebd.)
Nun lernt Marie Dr. Kliefoth kennen, Gesines "Lehrer für
Englisch und Anstand" (ebd.). Die Ereignisse an den zuvor
benannten Schauplätzen werden nahezu ausschließlich in
wörtlicher Rede wiedergegeben, Dialoge, wie in einem
Theaterstück. Einzig von Gesines Beobachtungen an Kliefoth
unterbrochen.
In der Erschöpfung hält er die Augen
geschlossen. Unter die Brillenbügel greifend massiert er mit
Daumen und Zeigefinger einer Hand die Schläfen. Die
Augenhaut ist grau, vielfach gefältelt, ohne Regung. Sitzt
da wie ein Toter; bis er sich weckt mit den kletternden Fingern.
(JT, 1889)
Wie ein Toter, das ist nur eine der Anspielungen auf den
besonderen Status des Dr. Kliefoth. Als (provokative) These
formuliert: Julius Kliefoth ist das personifizierte
Gedächtnis des Romans, sein Lebenslauf steht nicht nur
für die wichtigsten Themen ein, sondern auch für die
Möglichkeit, moralisch integer zu leben, will heißen:
mit der Schuld umzugehen. Gary Lee Baker hat bereits darauf
hingewiesen, daß Kliefoth die einzige Figur ist, "that has
lived during the entire narrated time (- from the Kapp Putsch
1920 to August 20, 1968 -) with an adult awareness of the
changing times."20
Darüber hinaus, das kann hier nur angedeutet werden, ist er
eine erzählerische Besonderheit in vielerlei Hinsicht.
Zum
zweiten Teil
Zum Ede-Hauptverzeichnis
1 Johnson, Uwe:
"Was mir an Ihrem 'Lübecker Podium' gefiel." Otto Hamkens
zum siebzigsten Geburtstag, in: ders., Porträts und
Erinnerungen, hg. von Eberhard Fahlke, Frankfurt am Main 1988, S.
78-80, hier: S. 79. Hervorhebung H.H. - Bei dem Aufsatz handelt
es sich um die leicht aktualisierte Fassung meines Vortrags
Last and Final, gehalten am 19.09.1994 auf der Londoner
Tagung "'... und hätte England nie verlassen.' Uwe Johnson
zum Gedenken".
2 Johnson, Uwe:
Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, Bd. I-IV,
Frankfurt am Main 1988, S. 17.
3 Vgl. Fries,
Ulrich: Uwe Johnsons "Jahrestage". Erzählstruktur und
Politische Subjektivität, Göttingen 1990, S. 47f.
4 Vgl. ebd., S.
19-37 und Neumann, Uwe: "Behandlen Sie den Anfang so
unnachsichtig wie möglich". Vorläufiges zu
Romananfängen bei Uwe Johnson, in: Johnson-Jahrbuch Bd. 3,
Göttingen 1996, S. 19-49.
5 Hornby, A.
S.: Advanced Learner's Dictionary of Current English, Oxford
1974, S. 476. Weniger poetisch im Webster's: "emphasizes
definite, decisive closing or ending of a series or process".
Webster's Third New International Dictionary of the English
Language, Springfield 1986, S. 1274.
6 Brecht,
Christoph: "You could say it was done with mirrors".
Erzählen und Erzähltes in Uwe Johnsons
Jahrestagen, in: Johnson Jahrbuch Bd. 1, Göttingen
1994, S. 95-126, hier: S. 108.
7 Vgl. JT,
1426f.; Fries, "Jahrestage" (Anm. 3), S. 130. - "Am 20. August
1967 war Gesine an der See, in New Jersey. Diesen Tag hat der
Schriftsteller als ersten genommen. Und weil er ein Buch aus
Jahrestagen machen wollte, hörte er genau ein Jahr
später auf." Johnson, Uwe: MARIE H. CRESSPAHL, 2.-3. Januar
1972, in: Eberhard Fahlke (Hg.), "Ich überlege mir die
Geschichte ...", Uwe Johnson im Gespräch, Frankfurt am Main
1988, S. 90-110, hier: 108.
8 Brecht, "You
could say ..." (Anm. 6), S. 102.
9 Johnson, Uwe:
Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt am Main
1980, S. 425. Das Datum steht auf S. 424.
10 Ich habe
versucht, dem auf anderem Wege nachzugehen. Vgl. Helbig, Holger:
In einem anderen Sinn Geschichte. Erzählen und Historie in
Uwe Johnsons Jahrestagen, in: Johnson-Jahrbuch Bd. 2,
Göttingen 1995, S. 119-133.
11 Vgl.
Johnson, Uwe: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl,
Frankfurt am Main 1992, S. 787.
12
Johnson-Archiv: 4 DF Jahrestage, 103a. Ich danke dem Uwe
Johnson-Archiv und dem Suhrkamp Verlag für die Erlaubnis,
aus dem Archivmaterial zitieren zu dürfen.
13 Der
Verlauf der letzten Korrektur ist nicht vollständig zu
rekonstruieren. Im Exemplar von Siegfried Unseld sind
pergamentene Seiten hinzugefügt, und zwar den letzten Tag
betreffend. Das Exemplar war auf einer Ausstellung zu sehen.
[Ergänzung 2000: Inzwischen ist der Briefwechsel
Johnson-Unseld erschienen, der zumindest eine genauere
Rekonstruktion gestattet.]
14 Zur Figur
der Marie vgl. Siemon, Johann: Liebe Maria, dear Mary, dorogaja
Marija. Das Kind als Hoffnungsträger in Uwe Johnsons
Jahrestagen, in: Johnson-Jahrbuch Bd. 3, Göttingen
1996, S. 123-145 und Paefgen, Elisabeth K.: Joseph und Marie. Zur
Darstellung von Initiationsmomenten in Joseph und seine
Brüder und Jahrestage, in: ebd., S. 146-172.
15 Auch bei
"Welcome Home!" handelt es sich genaugenommen um eine dreifache
Variation. An den Anfang der Reihe gehört Maries "Welcome to
San Francisco, Gesine!" (JT, 1845).
16 Vgl. JT,
121 u. JT, 1875. Die plattdeutsche Schreibung der vierundsiebzig
ist allerdings nicht einheitlich.
17 Fries,
"Jahrestage" (Anm. 3), S. 88.
18 Ebd. Fries
ist dementsprechend unwohl bei seiner Behauptung; vgl. seine Anm.
23 auf derselben Seite.
19 Das steht
an dieser Stelle als These - und soll durch die weitere
Argumentation belegt werden. Der Verlauf der Argumentation folgt
dem Text ebenso wie Benjamin: "Jedwede Untersuchung einer
bestimmten epischen Form hat es mit dem Verhältnis zu tun,
in dem diese Form zur Geschichtsschreibung steht." Vgl. Benjamin,
Walter: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai
Lesskows, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann
u. Hermann Schwepphäuser, Frankfurt am Main 1991, S.
438-465, hier: S. 451.
20 Baker,
Gary Lee: (Anti-) Utopian Elements in Uwe Johnson's
Jahrestage: Traces of Ernst Bloch, in: The Germanic Review
68, 1993, S. 32-45, hier: S. 45, Anm. 38.
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Letzte Aenderung: 30.09.2000
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