Zum
ersten Teil
Last and
Final.
Über das Ende der
Jahrestage
2. Teil
von Holger
Helbig
Ein Beispiel soll für eine ganze Kette von
Verweisen und Motiven einstehen. Gesine, die die Stimmen der
Toten hört, fragt ihn unter dem Datum des 16. Mai: "Ja,
Herr Kliefoth. Ich hör Sie gut. Sind Sie nun auch tot?"
(JT, 1177) Und es kommt zu folgendem
Dialog:
Die verlangen ja nur den einen
Mitgliedsbeitrag für ihren Club. Den hab ich.
Wann, Herr Kliefoth?
So gegen Abend, wenn in New York Mittag vorbei
ist. Ich denke so kommenden November.
(ebd.)
Der verlangte Mitgliedsbeitrag ist das Leben, und
Kliefoth weiß, wann er ihn zahlen wird.1 Es kommt ihm auf den Tag
nicht an. Am 20. August steht der Satz von Kliefoth: "Es ist
mehr daher, daß ich von den Überlebenden der
Älteste bin. Müßt auf den Friedhof gehen, wollt
ich mit jemandem reden." (JT, 1889)
Im letzten Bild des Romans nimmt er die Stelle
des Vaters ein. Das ist bisher nur eine auf diese vier Zeilen
bezogene These von Colin Riordan, die sich, wie das Beispiel
belegt, mühelos auf den ganzen Tag ausdehnen
läßt.2 Jenes mit-den-Toten-Reden auf dem Friedhof nämlich ist
auch von Cresspahl überliefert. Und ganz wie Cresspahl
weiß auch Kliefoth um seinen bevorstehenden Tod.
Es wird kein Deutsch gesprochen in diesen vier
Stunden. Gesine, die Geschichtsbewußte, erläutert
Kliefoth: "Es erschiene mir geschickt, wenn wir außerhalb
des Deutschen blieben. Dies Land ist einmal deutsch besetzt
gewesen." (JT, 1888) Im April 1940 hatten deutsche Truppen
Dänemark besetzt, die dänische Regierung trat 1943
zurück, als von ihr verlangt wurde, den Ausnahmezustand zu
verhängen. Bis zur Kapitulation im Mai 1945 wurde das Land
fortan auch formal von deutschen Behörden
regiert.
Kliefoth wechselt nach dem Hinweis erst einmal
ins Französische, um dann auf Platt fortzufahren. Zusammen
mit den dänischen Einsprengseln und Maries Englisch werden
die einzelnen Szenen dadurch noch weiter fragmentiert, die
Begrüßung, das gemeinsame Essen, die Erinnerungen beim
Spazierengehen. Und auch die Ausschnitte aus den Gesprächen
sind nicht immer zusammenhängend, so daß es
möglich wird, die Sätze und Abschnitte einzeln,
für sich zu lesen - und auch zu deuten. So als würden
im Verlauf der vier Stunden alle Themen abgeschlossen, als
enthielte der letzte Tag die jeweils letzten Steine, um das Bild
des Mosaiks zu vollenden.
Anita hat Kliefoth einen Paß besorgt, es
mißfiel ihr, daß Gesine in Frankfurt umsteigen solle.
Wer außer Anita und dem Zweiundachtzigjährigen sind
Gesine noch geblieben? Jetzt, wo auch D.E ... - wenn das
Gespräch auf ihn kommt, bricht es ab.
Jakob. Marie erkundigt sich nach ihm, nach einem
Toten: "Was ist gesprochen worden an meines Vaters Grab?" (JT,
1889)
"Unfug", sagt Kliefoth.
Und was ist geworden aus Jerichow? Was
früher Südfrüchte hieß, ist nicht mehr zu
haben. Der Aal, von dem 1928 noch in Anzeigen die Rede war,
Tausend Tonnen geräucherter Aal, er ist nicht mehr zu haben.
Immer wieder gleitet das Gespräch ab in die Erinnerung, das
kann nicht anders sein. Gesine im Mai 1953, das "schönste
Damen-Segelwetter", wäre da nicht der "orgelnde Baß"
des Alten, seine "schartige Heiserkeit", es wäre eine Idylle
(vgl. JT, 1890). "Manchmal träume ich das", gesteht Gesine
und zählt die Orte auf, an denen ihre Erinnerung
hängt. 3
Die Einfahrt nach Rostock neben dem
Alten Strom, Walddurchblicke im Doberaner Forst, der Bahnhof von
Wismar oder Gneez [...] Morgende im Winter am Eis,
Schilfschatten, Ofenfeuer ... aber Herr Rohlfs ist tot, oder auf
seine Art gescheitert an der Majorsecke. Nur auf Durchreise
dürfen wir nach Mecklenburg, in einem Hotel absteigen unter
Aufsicht; da ist kein Unterkommen nach Belieben.
(ebd.)
Der Tod des Hauptmanns der Staatssicherheit ist
symbolisch, wie Rudolf Gerstenberg schreibt, was "könnte er
bedeuten sollen"?4 So wenig, wie Gesine diese Orte erreichbar sind, so
wenig konnte ein Entwurf wie der des Herrn Rohlfs überleben.
Mit Rohlfs stirbt eine Hoffnung, die eigentlich nie eine gewesen
ist: es ließe sich leben mit der Notwendigkeit und dem
Gehorsam. Dennoch lese ich, bei aller Entschiedenheit, die in
dieser Festschreibung der Nachgeschichte der Mutmassungen
steckt, auch das Bemühen um Anerkennung jener
unausgesprochenen Hoffnung mit: Rohlfs ist tot oder auf seine Art
gescheitert. Da ist, am Ende dieser Reihe, kein Ort für ihn,
so wie auch Gesine Waren, Neustrelitz und Malchin unerreichbar
sind. Und Kliefoth erwidert: "Wär jemand wie ich doch
vermögend in der Zukunft, Fru Cresspahl. Åpen un
ihrlich!" (ebd.)
Offen und ehrlich, ist das mehr als nur ein
frommer Wunsch? Wie vermögend sind die Toten, zu denen
Kliefoth in der Zukunft gehören wird, als deren
Stellvertreter er hier spricht? So sehr die Stimmen der Toten
auch Gesines Geschichte verbessert, ergänzt und bestritten
haben: Sie hat ihre Entscheidung allein getroffen. Zwar eingedenk
der Toten, aber trotz ihrer Stimmen, trotz ihrer Erfahrungen. Und
das gilt nicht nur für die narrativen Entscheidungen - von
welchem Ereignis Marie erfahren soll oder nicht -, sondern auch
für die Entscheidung, nach Prag zu gehen. Prominentes
Beispiel dafür ist der 17. Mai, ein Tag der ganz jenen
Stimmen vorbehalten ist.5 Gesine wird über die Bedeutung eines Filmtitels
belehrt, The Fifth Horseman Is Fear. Eine Anspielung auf
die apokalyptischen Reiter, deren fünften die Deutschen
für die Tschechen eigens mitgebracht haben: die Angst. Der
Tag endet mit einer Warnung, die auch im Namen Kliefoths
ausgesprochen wird, einer Warnung vor Prag: "Du kannst da
nicht reden, nicht arbeiten, nicht leben. Gib es auf." (JT,
1179)
Das Unvermögen der Toten hieße: Diese
Geschichte halten sie nicht auf. So wenig wie sie vermögen,
Gesine dauerhaften Zugang zu verschaffen zu den Orten ihrer
Kindheit. Was bei Kliefoth als Wunsch formuliert ist, spricht mit
Bedauern eine Unmöglichkeit aus. Eine
Möglichkeit jedoch bleibt, die einzige, scheint es,
Vermögen in der Zukunft zu erlangen. Noch ist sie nicht
ausgesprochen. Denn der letzte Satz, den die Toten
überliefern, Cresspahls Vermächtnis, steht noch aus.
Ich will versuchen anzudeuten, wie sorgsam diese eine, noch nicht
ausgesprochene Hoffnung verborgen ist, indem ich eine
frühere Fassung dieses Tages zum Vergleich
heranziehe.
In den Fahnen, die der Suhrkamp Verlag im Herbst
1984 vor Erscheinen des Buches an die Rezensenten verschickte,
findet sich Kliefoths Entgegnung nicht. Auch Gesines Tagtraum
endet mit einer deutlicher formulierten Absage. Ein weiterer Satz
aus der den Fahnen vorausgehenden Fassung macht den Unterschied
dann vollends deutlich.
Ehe der Tagtraum beginnt, an dem nichts
verändert wurde, ist zu lesen: "Jeder Staat braucht seine
Legende."6 Gemeint ist jener Staat, der Kliefoth die Ausreise und Gesine
die Einreise verweigert. Gesine spricht es noch in der Fassung
des Rezensionsexemplars aus, wenn sie sich erinnert:
... aber Herr Rohlfs ist tot, oder auf seine Art
gescheitert an der Majorsecke. Auf dem Bahnhof
Friedrichstraße hat man mir mitgeteilt: Sie sind in der
Deutschen Demokratischen Republik unerwünscht.7
Diese Mitteilung gehört noch in die Zeit der
Mutmassungen. Kliefoths Antwort lautet:
Heute würde es heißen, Fru
Cresspahl: So sind wir richtig, Sie sind so richtig; bleiben Sie
wo Sie sind und helfen der Weltrevolution von New York
aus.8
Die Veränderungen, so viel wird auf den
ersten Blick deutlich, ersetzen das Konkrete durch das
Allgemeine. Es geht nicht um den Staat mit ausgeschriebenem
Titel, der sich eine Legende schafft, und das
Propagandageschwafel von der Weltrevolution. Kliefoths Ironie
stellt ein Scheitern aus und eine Hoffnung bloß. Es ist
bezeichnend, daß sie in der letzten Fassung gestrichen
wurde. In der endgültigen Fassung ist nurmehr von einer
Landschaft die Rede, Mecklenburg, und dem Wunsch, dort leben zu
können. Der Verweis auf die Majorsecken des Herrn Rohlfs
konfrontiert die politischen Zustände genügend mit dem
allgemeineren Verlangen nach Zukunft; vor allem aber: mit dem
Wunsch nach Erreichbarkeit der Vergangenheit. Denn diese
nämlich ist der Ort, wo die Toten sind. - Und wo nun
wäre hier, wie behauptet, Hoffnung bewahrt? Sie ist
verschwindend gering: Nachdem von der DDR und der Weltrevolution
nicht länger die Rede ist, darf Gesine zumindest auf der
Durchreise nach Mecklenburg. Es gibt Momente, in denen die Orte
der Vergangenheit erreichbar sind, sie sind nicht gänzlich
verloren.
Aus drei Gründen scheint mir diese Deutung
berechtigt. Zum einen entspricht sie der Bedeutung des
Erzählens im Roman: Momente, in denen Vergangenheit
überliefert wird, Orte, die Marie so zugänglich gemacht
werden. Auf ihr Wissen um die Toten ist diese Hoffnung
gestützt.9 Zweitens läßt sich über Rohlfs
Majorsecken auch schon in den Begleitumständen
nachlesen. Er sei in Ungnade gefallen heißt es da, weshalb
er Gesine in New York nicht begegnen könne.10 Hier wie da haben
andere dafür gesorgt, daß etwas unmöglich blieb,
was er für möglich hielt: ein Besuch in Mecklenburg,
ein Besuch in New York. Diese Hoffnung mag nur rückblickend
eine sein: es hätte sie gegeben, die Leute wie Rohlfs.
Festzuhalten bleibt, daß Johnson die Figur nicht aufgibt.
Und zum dritten läßt sich die Deutung komplettieren,
das steht noch aus: die Erwähnung Jakobs, Cresspahls Diktum
über die Geschichte und das Schlußbild.
Vorerst steht nur Kliefoths Wunsch vom
Vermögen in der Zukunft. "Dem alten Mann geht der Hosenbund
bis an die Brustwarzen. Seine abgetragene Kleidung wird von Mal
zu Mal verkleinert" (JT, 1890). Die Art von Leser, für die
die Jahrestage geschrieben worden sind, stoßen
spätestens beim nächsten Lesen auf einen
Wiedergänger, der eine wichtige Verbindung vorbereitet. Es
gibt einen namenlosen alten Mann, von dem Gesine nicht mehr
weiß, als daß er sie regelmäßig anruft
mit: "Na, Liebling!" (JT, 176)
Er ist sehr sorgfältig gekleidet
in seine verjährten Sachen, und im Jackenspalt ist zu sehen,
daß ihm der Hosenbund bis dicht unter die Brustwarzen
reicht. Sein Blick über die erhobene Tasse weg ist ganz leer
gewesen, von einer anderen Ansicht gefüllt. So konnte
Cresspahl nach dem Krieg dasitzen, anwesend und weit weggetreten
in eine Zeit, die es nur noch in Gedanken gab.
(ebd.)
In dieser Szene aus dem ersten Band ist der
namenlose Alte der Auslöser für die Erinnerung an
Cresspahl, der hätte auch so blicken können. Die
Beschreibung der Kleidung dagegen paßt auf Kliefoth; mehr
noch, der entsprechende spätere Satz ist ein Echo. Und
dieses Mal hat der alte Mann einen Namen. Die Stellvertretung
Cresspahls durch Kliefoth ist damit auch motivisch gesichert,
ohne daß eine der beiden Figuren dabei an
Eigenständigkeit verliert.
Das Nachdenken und das Altern tun Kliefoth weh:
"Kliefoth knetet seine Hände, überlegend. Der Schmerz
macht ihm die Pupillen eng" (JT, 1891). Der Anblick des Schmerzes
löst eine Erinnerung Gesines aus:
Einmal hatt ich mich geschnitten, gab
Jakob den Fuß in die Hand aus dem Stand. Er sah sich das
an, ließ den Fuß abgleiten im selben Rhythmus wie
meine Hand auf seine Schulter sich stütze; die Bewegung ging
mir durch den Leib ohne einen Schmerz. Ich glaub das geschieht
einem im Leben ein einziges Mal. (ebd.)
Geschehen ist das am Stadtsee von Gneez, die
Episode wird zu Beginn des dritten Bandes erzählt, how
many lakes did you make in your life now? "Ende Mai 1953, und
Jakob nahm mir den zerstochenen Fuß hoch wie einem jungen
Pferd, und die Bewegung lief mir durch den Leib nach oben ohne
einen Schmerz." (JT, 1018)
Der Verweis ist zwiespältig. Es steckt ja
keine Zurücknahme, auch keine Resignation in diesem Satz,
Gesine hat jenen Moment erlebt; nun ist er unerreichbar, weil
nicht wiederholbar. Diese Konstellation entspricht dem Umstand,
daß ein Leben mit Jakob unmöglich war, Marie aber
seine Tochter ist. Es könnte durchaus als Realisierung einer
Utopie gelesen werden, das Einlösen eines Traums mit
Verlusten.11
Der nahezu identische Teilsatz signalisiert eine
verfestigte Erinnerung; die Vermutung liegt nahe, das sei in der
Intensität des Erlebnisses begründet. Ein einziges Mal
im Leben geschieht einem dergleichen: Es hätte des Verweises
auf die Einzigartigkeit Jakobs eigentlich nicht bedurft. Dennoch
gibt es einen strukturellen Grund, ja geradezu einen Zwang, die
Figur Jakob noch einmal aufzurufen - und in dieser Weise. Denn
mit dieser Erinnerung Gesines beginnt das Ende vom Ende der
Jahrestage.
Das letzte Wort des ersten Bandes lautet: Jakob.
Der dazugehörige Satz: "Einmal wird das Kind aussehen wie
ich auf den ersten Blick, aber mögen wird die Welt es auf
den zweiten, und nicht einmal sie wird wissen, daß sie
zurücklächelt wie Jakob" (JT, 478). Die beiden letzten
Worte des zweiten Bandes lauten: Jakob. Der zweite Band endet mit
dem Eintrag zum 19. April 1968, der dazugehörige Absatz:
"Ick häud. Ich hüte: wie Cresspahl sagen konnte auf
Befragen nach solcher Tätigkeit. Ich war noch lange Zeit ein
Kind, und so sagte es noch Jakob." (JT, 1008) Diesem Tag ist ein
Anhang nachgestellt, der endet mit den Sätzen:
Ob Jakob es jetzt schon wissen
dürfe.
Jakob, ja. (JT, XVIII)
Vermutlich hat diese Dopplung der Namensnennung
dieselbe Ursache wie der Anhang, nämlich etwaigen
germanistischen Spekulationen vorzubeugen. Jedenfalls
läßt sich auf diese Weise das Signal nicht
überlesen.
Das Ende des dritten Bandes, wiewohl sehr
poetisch, ist hier nicht von Interesse. Zwar besteht der Roman
aus vier Lieferungen, doch macht ihn das noch lange nicht zu
einer Tetralogie. Die 122 Tage, die jeweils in den beiden ersten
Bänden erzählt werden, sind aus verschiedensten
Gründen auf zwei weitere Bände verteilt, das ist schon
alles. Wenn also der Name Jakob noch einmal am Ende zu erwarten
wäre, dann im vierten Band.
Am 17. August, also an dem Tag, an dessen Ende
das zweite Welcome home! steht, wird von Jakob
erzählt - und von Jakobs Kind Marie. Die Abfolge der
Berichte über Kollmorgens Eheringe aus dem Grab, Jakobs
Besuch in Düsseldorf und seinen Tod endet mit den bereits
erwähnten "Aufbauten einer Zukunft". Dann ist von Marie die
Rede. Hier wird eingelöst, was am Ende des ersten Bandes
motivisch angelegt war:12 Marie ist Gesines Tochter und Jakobs Kind. Auch das ist
kein Wortspiel, sondern halt Marie auf den ersten Blick und auf
den zweiten.
Am 20. August wird das Ende vom zweiten Band
eingelöst, und zwar ganz und gar auf die Johnsonsche Art:
"Ick häud. Ich hüte." bedeutet nämlich, was Marie
"I am keeping a watch on you" (JT, 1008) nennt, wie zuvor
erläutert wird. Ich gebe auf dich acht, ich behalte dich im
Auge. Gesine sei noch lange Zeit ein Kind gewesen, auf das
hätte man Achtgeben müssen, meinte Jakob. Cresspahl hat
es getan: "Ick häud." Nun übergibt sein Stellverter
Kliefoth den Auftrag an Marie, und zwar - das kann nicht anders
sein - auf englisch: "Will you take good care of my friend who is
your mother and Mrs. Cresspahl?" (JT, 1891).13
Somit sind auch diese beiden Bögen
geschlossen, und beide Male wurde eingelöst, was zuvor
zukünftig schien. Der Roman aber ist noch immer nicht zu
Ende.
Zwischen diesen beiden Verweisen auf Jakob liegt
eine Passage, in der Kliefoth, nach einer privaten Erinnerung,
sagt: "Im Grund weiß man vom Leben nur eines: was dem
Gesetz des Werdens unterliegt, muß nach diesem Gesetze
vergehen" (ebd.).14 Und er fügt hinzu, es ergehe ihm genügend, es
sei kein Grund zur Sorge. Kliefoths nahezu apodiktisches
Resümeé gilt zuerst für den Einzelnen, für
das Individuum. Doch zieht er es nicht nur für sich.
Gestrichen worden ist an dieser Stelle ein Verweis auf Schiller.
In der letzten Manuskriptfassung ist zu lesen:
Ich weiß vom Leben nur eines:
was dem Gesetz des Werdens unterliegt, muß nach diesem
Gesetz vergehen. Der Mensch steht ihm gegenüber wie der
Jüngling dem verhängten Bilde von Sais. Mir, da seien
sie unbesorgt, ergeht es genügend.15
Den wißbegierigen Jüngling in
Schillers Das verschleierte Bildnis zu Sais trennt nur ein
Schleier von der Wahrheit. Allerdings sagt die Gottheit im
Orakel:
[...] Kein Sterblicher, sagt
sie,
Rückt diesen Schleier, biß ich selbst
ihn hebe.
Und wer mit ungeweihter schuldger Hand
Den heiligen verbotnen früher
hebt,
Der, spricht die Gottheit" -
Nun?
"Der sieht die Wahrheit"
Ein seltsamer Orakelspruch!16
Der Jüngling, trotz der Warnung, hebt des
nachts den Schleier von dem Bild und wird am anderen Tag
gefunden, besinnungslos und bleich. Er verweigert jede Auskunft
über das Gesehene und warnt nun seinerseits:
"Weh dem, der zu der Wahrheit geht
durch Schuld,
Sie wird ihm nimmermehr erfreulich
seyn."17
Der Hinweis auf das Bild zu Sais ist
deutlich auf Kliefoths Satz bezogen. Der Mensch steht ihm
- dem Leben - gegenüber wie der Jüngling dem Bild: Er
kann zu letzter Gewißheit nicht gelangen, zumindest kann er
sie nicht mitteilen. An anderer Stelle schreibt
Schiller:
Unter einer alten Bildsäule der
Isis las man die Worte: "Ich bin, was da ist" und auf einer
Pyramide zu Sais fand man die uralte merkwürdige Inschrift:
"Ich bin alles was ist, was war, und was seyn wird, kein
sterblicher Mensch hat meinen Schleier aufgehoben."18
Ich bin, was da ist: das korrespondiert
Kliefoths Eingeständnis, mehr als die Gewißheit der
Vergänglichkeit sei ihm nicht erreichbar. Die Erweiterung,
die Schiller verzeichnet, bezieht sich auf eine Dimension
jenseits der Geschichte. Vor allem aber auf einen Begriff von
Wahrheit, wie er in den Jahrestagen nicht zur Sprache
kommt. Schon Herder hatte Schillers Gedicht mit der
Begründung kritisiert, Wahrheitsdurst könne nicht zu
Schuld führen: "Durst nach Wahrheit ist nie
Schuld".19 Wenngleich mir diese Kritik auf einem
Mißverständnis zu beruhen zu scheint - den auf das
Religiöse bezogenen Wahrheitsbegriff Schillers betreffend -,
illustriert sie doch, was mit der Streichung gewonnen wurde. Da
der Kontext nicht ausgeweitet ist, spricht Kliefoth seinen Satz
über das Wissen vom Leben zuerst für sich - und sodann
als Stellvertreter Cresspahls und der Toten. Es wird keine
vorformulierte Idee aufgerufen, die Interpretation ist auf den
Roman verwiesen. Johnson hat auch den Zweifel an der
Mitteilbarkeit des Gesehenen gestrichen. Die Variante belegt
einmal mehr, daß er an einer Aussage über die
Verbindung von Wahrheit und Schuld gearbeitet hat - und über
die historische Dimension einer solchen Erkenntnis.
Das wird überdeutlich, wenn Kliefoth noch
einmal von Cresspahl spricht: "Ihr Vater hat mir die Ehre seiner
Freundschaft erwiesen. Eine seiner Auffassungen ging dahin:
Geschichte ist ein Entwurf." (JT, 1891)
Auf diesen Satz folgt, was den Ausgangspunkt der
Überlegungen bildete, die Manuskriptübergabe. Die Geste
ist die Erwiderung auf den Satz Cresspahls: Gesine übergibt
Kliefoth ihre Geschichte, die somit nun gleichzeitig in
Händen der Toten wie in Händen ihrer Tochter ist. Im
Manuskript wird der Vorgang noch deutlicher: Auf den Satz
"Geschichte ist ein Entwurf" sagt Gesine: "Das haben wir
aufgeschrieben bis zu unserer Abreise in Prag [...]".20 Dem läßt
sich mühelos entnehmen, daß diese Überzeugung
auch Gesines Erzählung zugrunde liegt.
Geschichte ist ein Entwurf: Der Satz ist in beiden
historischen Richtungen lesbar. Rückwärts, auf die
Deutung dessen bezogen, was uns vom Gewesenen überliefert
ist, und vorwärts, die Möglichkeiten betreffend, die
sich aus dieser Geschichte ergeben. Beide Male ist nichts
gewiß außer eben dieser Feststellung: Geschichte ist
ein Entwurf. Daß Kliefoth zuerst ein persönliches
Fazit zieht, worauf das geschichtliche folgt, das erste nun
einschließend, gibt eine der Grundüberzeugungen
Johnsons wieder. Gültig ausgesprochen hat sie Max Frisch;
Johnson hat den Satz sowohl verarbeitet als auch, in seinem
Frisch-Lesebuch, an exponierte Stelle gesetzt, ans Ende
nämlich: "Es ist nicht die Zeit für Ich-Geschichten.
Und doch vollzieht sich das menschliche Leben oder verfehlt sich
am einzelnen Ich, nirgends sonst."21
In den Ich-Geschichten der Jahrestage
bekommt das Wort "Entwurf" eine zweite Bedeutung: Die
Entscheidung für New York, so sagte Gesine der Tochter, sei
zwar nicht ihr, Maries, Entschluß, wohl aber ihr Entwurf.
1961 erkennt Gesine im Westen Deutschlands Anzeichen für
eine erdrückende Kontinuität. Die Synagoge in Köln
Weihnachten 1959 beschmiert mit Hakenkreuzen, wieder steht "Juden
raus" an den Wänden. Ein Mann, dem der Roman den Namen
verweigert, einst "Offizier für wehrgeistige Führung",
"aktivistischer Nationalsozialist" (JT, 1873), wird westdeutscher
Verteidigungsminister. Gesine zählt die Stationen seiner
Karriere auf, sie will "aus dem Land, für eine Weile" (JT,
1872). Zukunft scheint ihr hier nicht möglich. - Wo die
Mutter zu Gast ist, wird die Tochter heimisch. Marie macht sich
die Stadt zu einem zu Hause, hier will sie leben, auch in
Zukunft. New York ist ihr Entwurf.
Geschichte ist ein Entwurf, das steht nicht
nur für das gezwungenermaßen Hypothetische eines
Rückblicks, sondern ebenso für das noch nicht Reale der
Vorausschau. Im zweiten Falle meint Entwurf eine positive
Möglichkeit. Die Lesart wird auch durch die Geschichte von
Johnny Schlegels Kommune gestützt, die einmal als "Entwurf"
(JT, 1841) bezeichnet wird. Doch gerade dieses Beispiel zeigt,
wie sich Geschichte am Einzelnen vollzieht, und daß
es um Entwürfe dieser Art im Sozialismus nicht gut bestellt
war.22
Im Roman steht nun "Wie es uns ergeht, haben wir
aufgeschrieben bis zu unserer Abreise in Prag [...]", und ich
hatte die Deutung des Präsens eingangs verschoben. Es
markiert die eben angesprochene Gleichzeitigkeit von
Vergegenwärtigung der Vergangenheit und Hoffnung auf die
Zukunft. Das erste, weil so die Manuskriptübergabe
übersetzt wird: Das Heute ist nur erklärbar aus der
Geschichte der Toten. (Vielleicht sogar: Sie haben ein Anrecht
auf die weitere Geschichte.) Das zweite, weil der Verweis auf
Prag unmöglich überlesen werden kann.
Was soll uns geschehen mit einer
Gesellschaft Ceskoslovenské aeroline C.S.A., die tritt im
ausländischen Verkehr auf unter den Buchstaben O und K? Wo
wir fest gebucht sind, O.K.? Heute abend rufen wir an aus Prag.
(JT, 1891)
Erneut steht das Präsens mit futurischer
Bedeutung, die Gewißheit demonstriert. Prag wird erreicht,
die Reise beendet werden, ja die Ankunft steht auch dafür,
daß diese Reise sich gelohnt haben soll. Auch diese Passage
hat Johnson noch überarbeitet, als die Rezensenten ihre
Exemplare schon in Händen hatten. Dort stand nur zu lesen:
"Was soll uns geschehen mit einer Fluglinie, die hat als
internationales Kennzeichen die Buchstaben O und K. O.K.?" (RE,
1891)
Nun ist aus der Fluglinie eine Gesellschaft
geworden, eine Veränderung, die allein schon den
metaphorischen, fast symbolischen Gehalt der Vokabel sichtbar
werden läßt. Was soll uns mit der tschechischen
Gesellschaft geschehen - eine überdeutliche Anspielung. Und
noch einmal wird das Manuskript um zwei Sätze erweitert, die
beide für die Überzeugung stehen, eine richtige
Entscheidung getroffen zu haben. Gesine ist fest gebucht für
Prag, es ist alles in Ordnung, O.K., noch am selben Tag wird sie
anrufen aus Prag.
Noch am selben Tag wird Prag von sowjetischen
Truppen besetzt. Das ist der Absturz, vor dem Gesine Angst hat.
Es ist mehr als ein Bild, denn die Angst vor dem Fliegen steht
auch für die Angst vor dem Verlassen des Landes, in dem
Marie eine Heimat sieht, steht auch für die Angst vor dem
letzten Versuch mit dem Sozialismus. Johnson führt vor, wie
groß die Hoffnungen waren, wie plötzlich trotz aller
Skepsis deren Ende.23
If Jahrestage shows progress
towards harmony at all, then the harmony has to be attained in
Gesine's decision to go to Prague and attempt to work for her
socialist ideals, with the final scene of the novel on the beach
in Denmark on 20 August 1968 representing a moment of
fulfilment.24
Von welcher Erfüllung aber kann gesprochen
werden, wie begrenzt ist das Moment der Hoffnung, wenn das Ende
des Romans "a fundamental tension between hope and
disaster"25 repräsentiert? Sabine Fischer zeigt an vielen
Belegen, wie Gesines Hoffnung auf den Prager Sozialismus
relativiert wird, sie spricht von einer "zerbrechlichen
Utopie".26 Horst Turk, angesichts derselben Befunde, kann lediglich
"eine analytische Kraft des Rückerinnerns der Prämissen
erkennen, die sich kaum mit einer utopischen Hoffnung im Sinne
Blochs vereinbaren läßt".27 Die Spannung, von der
Bond sprach, erscheint bei Turk aufgelöst, "die Hoffnung
durch die analytische Kraft des Erinnerns ausgestrichen [...],
nachdem sich diese nur dank ihrer entfalten konnte".28 Tatsächlich
läßt sich eine Einschätzung wie die Robert
Havemanns, "die Monate Freiheit von Januar bis August haben
genügt, ein lebensfähiges Wesen hervorzubringen, das
sich behaupten kann",29 aus den Jahrestagen nicht ableiten. Havemann
behauptet, die Hoffnung sei lebendig geblieben; der Roman zeigt,
daß es sie gegeben hat. Bewahrt er sie damit auch? Norbert
Mecklenburg beantwortet die Frage, indem er dem Erzähler
Johnson bescheinigt: "An der Utopie hält er fest, gerade
indem er die Tatsachen aufhäuft, die ihr
entgegenstehen."30 Mecklenburg sieht die oben benannte Spannung
ergänzt durch die zwischen Utopie und Materialismus. Dennoch
stelle der "dokumentarische Realismus" die "Grundkonzepte des
Historischen Materialismus" nicht grundsätzlich in
Frage.31 Diese Kritik wird durch die politische Bedeutung der von
Turk dargestellten analytischen Kraft des Erinnerns zumindest
relativiert.
"Gesines Hoffnungen waren nur noch einmal an
einer scheinbar konkreten Perspektive entzündet worden, um
desto nachdrucksvoller enttäuscht zu werden",32 interpretiert Ulrich
Fries, räumt dann aber ein: "Und doch will das Moment der
Hoffnung nicht aufhören zu existieren, auch wenn dafür
kein systematischer Grund mehr angegeben werden kann."33 Der erste Satz
läßt sich nur aufrecht erhalten, bezieht man das
Wissen des Lesers um den Ausgang des Prager Frühlings mit
ein; der zweite Satz versucht, genau davon abzusehen. Diese
Konstellation läßt sich als Abbild eines Dilemmas
lesen.
Die erzählerische Rekonstruktion an 366
aufeinanderfolgenen Tagen ist in doppelter Hinsicht vollendet:
Die kalendarische Form ist komplettiert, Gesine hat ihre
Geschichte zu Ende erzählt. Das Einhalten der Kalendergrenze
erzeugt gewöhnlich eine offene Form; etwas bleibt
unausgesprochen. Das Erzählen von Familiensagas endet
gemeinhin mit der Übergabe der Geschichte an die
nächste Generation oder - im Falle des Romans - in der
Gegenwart; es bleibt nichts, das noch zu sagen wäre. Die
Verknüpfung der Familiengeschichte mit der (sicherlich
begrenzten) Alltagsgeschichte New Yorks verbindet diese Momente
miteinander. Das Verbindungsstück, streng formal betrachtet,
sind die drei letzten Tage. Sie stehen nach dem Ende von Gesines
Erzählung und vor dem Erreichen der kalendarischen
Grenze.
Rückblickend vom Ende der Jahrestage
lassen sich zwei Ebenen mit unterschiedlicher interner
Chronologie und - damit verbunden - unterschiedlichem Bezug zur
Geschichte (history) unterscheiden. Das Verhältnis der
Ebenen zueinander wird an den letzten drei Tagen in das
Verhältnis beider Ebenen zur Geschichte
überführt. Die Spannung, die aus der Verbindung zweier
scheinbar entgegengesetzter Erzählstrategien resultiert,
wird nicht aufgelöst. Die fragmentarische Form des letzten
Tages ist ein Indiz für das Bemühen, sie formal
aufrechtzuerhalten.34 Die inhaltliche Entsprechung bildet das schon
beschriebene Dilemma.
Es dabei zu belassen, hieße vorschnell ins
Abstrakte zu verfallen. Das Ende der Jahrestage ist an ein
konkretes Ereignis gebunden. Der Prager Frühling, das
läßt sich erst heute, rückblickend von einem
deutschen Standpunkt nach 1989 - und auch dann noch mit aller
Vorsicht - sagen, ist bei Johnson historisch treffend
dargestellt: als der letzte Versuch mit der Sache des
Sozialismus.35 Kein "vorerst" in dem Satz: Last and Final.
Die Intervention sowjetischer Truppen war von
Anfang an eine Möglichkeit, mit der in Prag gerechnet wurde;
je ernsthafter die Bemühungen um eine Veränderung des
Sozialismus, desto wahrscheinlicher wurde sie. Auch das ist in
den Jahrestagen nachzulesen. Gesine versucht, gegen die
Wahrscheinlichkeit zu leben. Und für die Geschichte? -
Für eine Hoffnung; das Pathos ist so verhalten wie das
Eingeständnis des Irrtums in "und ich dachte zu leben
genüge" (JT, 1882). Was wie Verdrängung aussieht,
Gesines Beharren auf der Abreise, läßt sich leicht als
Handeln wider besseres Wissen lesen. Wäre der Versuch des
Prager Frühlings möglich gewesen, ohne die Hoffnung, es
würde so weit nicht kommen?
Im letzten Bild wird Kontinuität
dargestellt, im Bewußtsein des Todes, im Wissen um
Geschichte. Das Bild trägt auch, was in der Handlung bereits
realisiert war. Der Satz Cresspahls, diese Feinheit soll nicht
unterschlagen werden, wurde an die Mutter überliefert, an
die Erzählerin der Familiengeschichte. Marie ist in dieser
Szene nicht länger Adressatin einer Erzählung über
die Vergangenheit, sondern Zeugin ihrer Überlieferung.
Demzufolge wendet sich Kliefoth mit seiner nächsten Bitte
direkt an Marie, die nun verantwortlich wird für ihre
Mutter, die unterwegs ist zu einer Bank in Prag.
Indem die Geschichte vor der Zerstörung der
Hoffnung endet, bewahrt das Erzählen jenes Moment von "noch
Hoffnung": und zwar im Bewußtsein ihrer Gefährdung.
Mehr war dem Erzählen, und vielleicht der Kunst
überhaupt, in diesem Jahrhundert wohl nicht möglich.
Diese geringe Hoffnung ist aufgehoben in einem poetischen Moment,
in den dreieinhalb Zeilen, die den Roman zurückführen
ans Wasser, von wo er seinen Ausgang genommen hat. Und dieser
Moment ist nur deshalb erträglich, weil er nicht mehr
für eine Hoffnung einsteht, sondern schon gegen ihre
Zerstörung gewandt ist. Johnson hält an der Hoffnung
fest, so lange es sein Realismus zuläßt.
Beim Gehen an der See gerieten wir ins
Wasser. Rasselnde Kiesel um die Knöchel. Wir hielten
einander an den Händen: ein Kind; ein Mann unterwegs an den
Ort wo die Toten sind; und sie, das Kind das ich war. (JT,
1891)
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1 Daß es
sich hier nicht nur um personelle, sondern auch
erzählerische Besonderheiten handelt, bestätigt auch
Marie, wenn sie von den sachlichen Beschränkungen des
Genossen Schriftsteller berichtet: "Er [der Genosse
Schriftstseller] weiss wohl, dass Dr. Kliefoth im November starb,
weil er mit 82 Jahren nicht mehr ärztlichen Beistand haben
wollte; es kann aber nicht in das Buch getan werden." Johnson,
MARIE H: CRESSPAHL (Anm. 7), S. 108.
2 Vgl.
Riordan, Colin: The Ethics of Narration. Uwe Johnson's Novels
from "Ingrid Babendererde" to "Jahrestage", London 1989, S.
158.
3 Rudolf
Gerstenberg nennt die Passage einen "Tagtraum". Vgl. Gerstenberg,
Rudolf: Wie Uwe Johnson die Staatssicherheit verfolgte. Eine
Absichtserklärung, in: Johnson-Jahrbuch Bd. 1,
Göttingen 1994, S. 45-57, hier: S. 50. Es spricht vieles
dafür, sie nach Bloch als einen solchen zu interpretieren.
"Der Träger der Tagträume ist erfüllt von dem
bewußten, bewußt bleibenden, wenn auch
verschiedengradigen Willen zum besseren Leben, und der Held der
Tagträume ist immer die eigene erwachsene Person." Vgl.
Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1, Frankfurt am Main
1985, S. 96-129, hier: 101. Eine solche Interpretation wird
zusätzlich gestützt durch einen gemeinsamen Intertext:
In der Passage über Tagträume bezieht sich Bloch auf
einen Ausschnitt aus Mörikes Maler Nolten, an dessen
Ende die Erwähnung der Insel Orplid steht. Johnson ruft in
den Jahrestagen denselben nicht erreichbaren Ort auf, wenn
er auf Mörikes Gesang Weylas anspielt: "Das
militärische Sperrgebiet, das schwingende Land, es hat
geleuchtet aus der Ferne" (JT, 1776).
4 Vgl. dazu
Gerstenberg, Wie Uwe Johnson (Anm. 23), S. 50.
5 Und Kliefoth
trägt an diesem Tag bereits gleichberechtigt mit vor im Chor
derjenigen, die eingangs eigens ausgewiesen werden: "Ich will
nichts von den Toten jeden Tag" (JT, 1178).
6
Johnson-Archiv, Jahrestage 4 DF, 103a. Der Satz folgt auf: "Eine
Stimme mit einer schartigen Heiserkeit, die bei lockerem Sprechen
im Baß orgelt" (JT, 1890).
7 Johnson,
Uwe: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, Bd. 4,
Frankfurt am Main 1983, Rezensionsexemplar, S. 1890. Im folgenden
zitiert als RE, Seite.
8 RE, 1890.
Dann setzen beide Fassungen fort mit: "Dem alten Mann geht der
Hosenbund [...]" (JT, 1890).
9 Hinzu kommt,
aus gänzlich anderer Perspektive, eine weitere Wirkung des
Erzählens: "Marie mußte keine Erbschaft im Sinne der
Abgeltung einer Haftung antreten; denn gerade dies hatte Gesine
mit ihrem Erzählen für sie getan." Vgl. Turk, Horst:
Gewärtigen oder Erinnern? Zum Experiment der den Jahrestage, in:
Johnson-Jahrbuch Bd. 2, Göttingen 1995, S. 134-154, hier: S.
152.
10 In den
Begleitumständen ist bereits zu lesen, was drei Jahre
später noch einmal in Druck gegeben wird: "Der Mann, der
sich Mesewinkel nannte oder auch Rohlfs, in einem dienstlichen
Auftrag hätte er auftreten können in New York, aber der
war an der Majorsecke auf seine Art gescheitert, in Ungnade
gefallen seit Februar 1962 [...]" (BU, 407). - Die
kontinuierliche und langwierige Arbeit am letzten Tag ist ein
Anzeichen für die Bedeutung, die Johnson ihm
beimaß.
11
Überhaupt wären die Überlegungen zum Utopiebegriff
in den Jahrestagen zu ergänzen durch Analysen der
Figurenkonstellation. Und auch eine Deutung der
Mutmassungen im Kontext des Gesamtwerks müßte
diesem Umstand Rechnung tragen.
12 Das geht
über den hier skizzierten Bezug hinaus. Am 17. Dezember
trifft unter anderem ein Brief von Kliefoth in New York ein - und
Gesine lügt, als sie die Frage beantwortet, ob sie
verheiratet sei. (That takes care of that.)
13 Nicht
ganz auszuschließen ist, daß hier zusätzlich das
Echo eines Satzes vom Ende des ersten Bandes erzeugt wird:
über ein Wortspiel. Weil es ein schwaches Echo ist, wurde es
nicht in diese Anmerkung aufgenommen.
14 Bernd
Neumann schreibt, es handle sich "so schopenhauerisch umwittert
wie wortgenau" um ein "Zitat aus einem Buch des Leipziger
Indologen Professor Weller". Was das Wortgenaue betrifft, ist die
Sache nicht recht überprüfbar. Zum einen enthält
sein Zitat aus den Jahrestagen zwei Fehler (die so bei
Weller stehen?), zum anderen wird nicht mitgeteilt, um welches
Buch es sich handelt. Des weiteren verweist Neumann auf Platons
Phaidon, wo den Satz "fast wortgetreu Sokrates
spricht". (Hervorhebung d. V.) Vgl. Neumann, Bernd: Uwe Johnson,
Hamburg 1994, S. 842. Berdn Auerochs, vorsichtiger und genauer,
spricht von einem "Echo eines zentralen Theorems der platonischen
Ideenlehre, wie sie Sokrates im Phaidon darlegt". Vgl.
Auerochs, Bernd: Erzählte Gesellschaft. Theorie und Praxis
des Gesellschaftsromans bei Balzac, Brecht und Uwe Johnson,
München 1994, S. 241f. [Inzwischen hat Norbert Mecklenburg
die Quelle eindeutig identifiziert, es handelt sich um
"Sätze aus einem Brief des Orientalisten Friedrich Weller";
vgl. Mecklenburg, Norbert: Die Erzählkunst Uwe Johnsons,
Frankfurt am Main 1997, S. 329f.]
15
Johnson-Archiv, Jahrestage 4 DF, 103a. In den
Rezensionsexemplaren fehlt der Verweis bereits.
16 Schiller,
Friedrich: Das verschleierte Bild zu Sais, in: Schillers Werke,
Nationalausgabe, Erster Band, hg. von Julius Petersen und
Friedrich Beißner, Weimar 1943, S. 254ff., hier: 254f.
17 Ebd., S.
256.
18 Schiller,
Friedrich: Die Sendung Moses, in: Schillers Werke,
Nationalausgabe, Siebzehnter Band, hg. von Karl-Heinz Hahn,
Weimar 1970, S. 377- 397, hier S. 385. Schiller betrachtet die
beiden Sätze als Anzeichen für die erhabene, einfache
Größe, mit der die Epopten von Gott sprachen. - Im
Gedicht erscheint das Moment verändert.
19 Brief
Herders an Schiller vom 22. August 1795. Vgl. Schillers Werke,
Nationalausgabe, Fünfunddreißigster Band, hg. von
Günter Schulz in Verbindung mit Lieselotte Blumenthal,
Weimar 1964, S. 298ff., hier: S. 298. "Laßen Sie den armen
Jungen [...] vom Anblick der Wahrheit [...] toll oder gar
zerschmettert werden; laß ihn blind werden, oder die
Wahrheit im Anblick immer coloßalischer sich erheben - wie
Sie wollen; nur dies Priesterverbot, und die Schuld, die es
wirken soll, - damit habe ich nichts zu schaffen. (Ebd., S.
299.)
20
Johnson-Archiv: Jahrestage 4 (1. Fsg./1), 100.
21 Frisch,
Max: Mein Name sei Gantenbein, in: ders., Gesammelte Werke in
zeitlicher Folge, Frankfurt am Main 1986, Bd. V, S. 103. Vgl.
auch Frisch, Max: Stich-Worte. Ausgesucht von Uwe Johnson,
Frankfurt am Main 1985, S. 249.
22 Vgl.
Fischer, Sabine: Der Prager Frühling als "Entwurf".
Politische Diskurse in Uwe Johnsons "Jahrestagen", in: Carsten
Gansel/Bernd Neumann/Nicolai Riedel (Hg.), Internationales
Uwe-Johnson-Forum. Beiträge zum Werkverständnis und
Materialien zur Rezeptionsgeschichte. Band 3 (1993), Frankfurt am
Main 1994, S. 53-104, bes. S. 90f. Vgl. zur Hoffnung, für
die Johnny Schlegel einsteht, auch Baker, (Anti-) Utopian
Elements (Anm. 19), bes. S. 36f.
23 Zur
Darstellung der Vorgeschichte des Scheiterns in den
Jahrestagen vgl. Fischer (Anm. 42) und Bond, D. G.: German
History and German Identity: Uwe Johnson's "Jahrestage",
Amsterdam 1993, bes. S. 47-70. - "1968 wurde das Jahr der
großen Hoffnungen und der bitteren Enttäuschungen. In
der CSSR wurde bewiesen, daß Sozialismus und Freiheit
miteinander vereinbar sind, ja mehr noch, daß ohne Freiheit
kein wahrer Sozialismus und ohne Sozialismus keine wahre Freiheit
möglich ist." So schreibt Robert Havemann zwei Jahre
später. Havemann, Robert: Fragen Antworten Fragen. Aus der
Biographie eines deutschen Marxisten, München 1990, S.
213.
24 Bond,
German History (Anm. 43), S. 40.
25 Ebd.
26 Fischer,
(Anm. 41), S. 59. Fischer spricht durchgehend von einer konkreten
Utopie im Sinne Blochs - mit eingrenzendem Verweis auf das
Prinzip Hoffnung ("aktiv bewußte Teilnahme am [...]
Prozeß revolutionärer Umbildung der Gesellschaft") -
und deutet die Hoffnung Prag am Ende als Modell, das dem
Versuch eines "richtigen Leben im falschen" entgegenstünde.
Der Sinn der Gegenüberstellung entgeht mir. Diese Deutung
verwandelt die Spannung zwischen Hoffnung und Desaster in zwei
konkurrierende theoretische Konzepte. Der Einwand als Frage
formuliert: Schließt nicht Blochs Utopiebegriff die
Hoffnung auf ein mögliches richtiges Leben (unter welchen
Umständen auch immer) ein und erkennt sie als
Vorerscheinung an?
27 Turk,
Gewärtigen oder Erinnern? (Anm. 29), S. 134.
28 Ebd.
29 Havemann,
Fragen Antworten Fragen (Anm. 43), S. 145.
30
Mecklenburg, Norbert: "Märchen vom unfremden Leben." Uwe
Johnson und der Sozialismus, in: Das Argument 34, 1992, S.
219-233, hier: S. 230. Mecklenburgs Befund stützt sich nicht
nur auf die Jahrestage.
31 Vgl. ebd.
Hier ist sorgfältig zu unterscheiden zwischen der Analyse
des politischen Standpunkts eines Autors und der Bestimmung einer
(eventuellen) politischen Aussage eines Romans.
32 Fries,
"Jahrestage" (Anm. 3), S. 174.
33 Ebd., S.
177.
34
Weiterführende Überlegungen zu einem dementsprechenden
Werk- und Realismusbegriff könnten hier ihren Ausgang
nehmen.
35 Gesine
betrachtet ihr Vorhaben so: "Wenn auch dies nicht gelingt,
gäbe ich auf, D.E." (JT, 683). Vgl. dazu Bond, German
History (Anm. 43), S. 65-70.
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ersten Teil
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Letzte Aenderung: 30.09.2000
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