Erlanger Liste



    Wolfgang Buhl

    HERMANN HESSE

    DAS GLASPERLENSPIEL

    Es muß, darf man Berichten aus jener Zeit glauben, im Frühjahr gewesen sein, etwa zur Zeit des großen öffentlichen Spiels, des Ludus anniversarius oder sollemnis, als das Ereignis eintrat, von dem hier die Rede sein soll, wobei man freilich bedenken mag, daß nach kastalischer Gepflogenheit kaum etwas davon in weiteren Kreisen des Landes bekannt wurde, es sei denn, reisende Mitglieder des Ordens hätten die Kunde weitergetragen. Dem aber geschah nicht. Vielmehr wurde behutsames Stillschweigen darüber bewahrt, nicht zuletzt von Josef Knecht selbst, und je und je hat man sich seither Gedanken darüber gemacht, warum gerade wohl jene Sekunde seines Lebens - denn in nicht geringerer Kürze scheint sich das oben genannte Geschehnis vollzogen zu haben - in historisches Dunkel gehüllt blieb und vielleicht gar gehüllt bleiben wird. Aber wir wollen nicht vergessen, daß Geschichtsschreibung, wie auch immer sie betrieben werden mag, mit Lücken solcher und ähnlicher Art zu rechnen hat, und wenn wir uns dennoch nicht scheuen, gerade dieser Sekunde in Knechts Leben nachzuspüren und eine zwar eigenwillige, aber keineswegs fernliegende Deutung zu geben, so ermutigt uns eben gerade der Umstand zu unserem Unternehmen, der den Chronisten in ähnlichen Fällen daran zu hindern pflegt. Der Umstand nämlich, daß weder verbürgte Nachrichten, noch eigene Manuskripte des Ludi Magister über diesen, wenn wir uns so ausdrücken dürfen, Kurzteil seines irdischen Hierseins vorliegen, was nicht besagen soll, daß er von Unwichtigkeit gewesen wäre. Es handelt sich vielmehr um einen Augenblick höchster Bedeutung im Geschick dieses besonnenen und außerordentlichen Mannes, einen Augenblick, in dem Amor fati und Daimonion seines Lebens nach heimlichem, aber leidenschaftlichem Suchen einander begegneten und eine merkwürdige Handlung bedingten, derer noch spätere Generationen des Vicus Lusorum voll Unruhe und Verwunderung gedachten.

    Falls nämlich Tagularius, der feurige und etwas unüberlegte Gehilfe Knechts, keiner Täuschung erlegen ist, hatte der Glasperlenspielmeister just zu jener besagten Zeit seine Lesung, der er vor den Eliteschülern nachkam, mit abrupter Gebärde unterbrochen, war gleichzeitig von einer heftigen Blässe befallen und, entgegen der ehrwürdigen Langsamkeit seiner sonstigen Bewegung, durch eine höchst plötzliche Wendung des Körpers ergriffen worden, die ihn im Bruchteil jenes bedeutungsvollen Zeitraums, von dem hier die Rede ist, mit dem Rücken zum Übungsspiel zu stehen brachte und die Seminarzelle ohne weitere Erklärung verlassen ließ.

    Bei diesem Sachverhalt wird man einsehen, daß uns nichts zu der Annahme befugt, der Zusammenhang zwischen der fremdartigen, ja rückläufigen Bewegung, kurz zwischen der Körperdrehung Knechts und der ihr vorausgegangenen Blässe seiner Wangen beruhe auf Zufall. Und wenn wir auch nicht - wie etwa Alexander - zu dem Schluß neigen, ein plötzlicher Sonnenstrahl, welcher sich durch das Fenster der Zelle stahl, habe jene körperliche Veränderung bewirkt, oder gar die Vermutung des Magister Musicae teilen, einer der übenden Novizen habe beim zweiten Spieleinsatz den Quintschritt zu früh in einen Quartschritt und die Dominante in eine falsche Klausel verwandelt, über welch mangelnde Kalligraphie der Meister alle Besonnenheit und Gesichtsfarbe verlor, so haben wir den Ernst des Vorfalls doch keineswegs verkannt, ja wir möchten befürchten, daß er noch ernster gewesen sei als man ursprünglich zu glauben sich anschickte. Zu unserer Bestürzung erhärtete Plinius Ziegenhalß, der rühmlich bekannte Literarhistoriker, welcher sich schon vor geraumer Zeit um die Erforschung des feuilletonistischen Zeitalters Verdienste erwarb, unsere Vermutung, indem er nach beharrlichen Studien im Archiv des Glasperlenspiels erklärte, daß Josef Knecht das Opfer seines eigenen, wie wir wissen, nicht geringen Spieltriebs geworden sei. „Das vorliegende Spiel“, so schrieb der greise Gelehrte unter anderem, ist in seiner Struktur als Spezialunterhaltung bald der Philologen, bald der Mathematiker, bald der Philosophen, Musiker oder Pädagogen, kurz aller Kenner hochentwickelter Geheimkontrapunktik, in der Lage, den besten, ja virtuosesten, um nicht zu sagen privilegiertesten Glasperlendenkspieler, vielleicht sogar einen recht tüchtigen, ja genialen Esoteriker trotz hundertfältiger Exerzitien auf den Gemeinplätzen Kastaliens behutsamstem Zweifel zu überliefern, zumal sein gläserner, um nicht zu sagen durchsichtiger Name einen ebenso milchgläsernen, um nicht zu sagen undurchsichtigen Charakter birgt, womit die fenstergläserne Blaßsichtigkeit des Ludi Magister Josef Knecht hinlänglich interpretiert wäre.“ Eine Auslegung, der wir uns, namentlich nach der kontemplativen Seite hin, nicht zu verschließen wagen. Welch mutwilliger Gedanke Knecht freilich bewog, dem Glasperlenspiel gleichzeitig den Rücken und sich weder um das Vademecum, noch an die für diese Fälle vorgeschriebenen Meditationsübungen zu kehren, ist und bleibt auch für uns - wie wir leider gestehen müssen - sehr schwer zu deuten und könnte Anlaß zu einer neuen, nächstens tiefer zu erschöpfenden Legende werden.


    Parodie auf Hermann Hesses Bildungs-Roman "Das Glasperlen-
    spiel" (1943).

    © Wolfgang Buhl. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors. Jede kommerzielle Verwendung dieses Textes ist untersagt!


    ERNST JÜNGER

    STRAHLUNGEN

    Dies diem docet ...

    Paris, 23. September

    Trete nach einem Teller Suppe wieder in diese sterile Materie ein, mit leichtem Zauder, wie dergleichen wohl immer die Fliehkraft der Anziehung zugesellt. Unter der Post ein Brief Friedrich Georgs, dem ein Gedicht von später Prismatik beiliegt. „Doch Homeride zu sein, auch nur als letzter, ist schön.“
    Abends bei der Doctoresse, die mir das Hühnerauge vom 13.9. entfernte. Weidete lange im Anblick des Präparats, um siamesischen Fäden nachzugehen. So hält man sich auf der Höhe der Geistigkeit.

    Paris, 24. September

    Tristitia. Fahrt zum Friseur in die Avenue Kléber, suspektes Wachstum beheben zu lassen. Dort über Makrozephalie, mit der Manicure später von Samson und Delila, wobei sich ein verhaltener Zug von Erfahrung in ihre Mundwinkel ritzte. - Urformen des Mutterrechts.

    Erinnerte ein mot juste von Karl Kraus: „Friseurgespräche sind der unwiderlegliche Beweis dafür, daß die Köpfe der Haare wegen da sind.“

    Leichte Verstimmung.

    Paris, 25. September

    Auf Wolken die Sonne. Trieb tagsüber chiroskopische Studien und möchte des Daumens (Duomen, Doumen, domare) Erwähnung tun, dem - wie d'Aspentigny nachweist - Symbolkraft amvohut: „l'animal superieur est dans la main, l'homme est dans le pouce.“ Dahin auch das Daumenhalten und „den Daumen beißen“.

    Gedanke: In Konkordanz zu bringen mit Kannibalismus?

    *

    Und abends den guten Kaffee.

    Paris, 26. September

    Briefe, in denen Hinterbliebene von Lesern schreiben, mehren sich. Erbaue mich auf subtiler Jagd in der Wanne und bringe eine vibra lavationis ein (Seife aus der Rue de Duras), an der ich Flossenbildung bemerke. Muß Dönitz darüber zu Rate ziehen.

    Auch fernerhin in den Psaltern, vor allem Psalm 90, Vers 9: „Darum fahren alle unsre Tage dahin durch deinen Zorn; wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz.“

    Doch geben die neuen Hosenträger Mut für weitere Geisteskämpfe, auch lassen sie Willensfreiheit.

    Capriccio tenebroso: Der Waldarbeiter.

    Paris, 27. September

    Embarras de richesse.

    Paris, 28. September

    Rückfall des Hühnerauges vom 13. 9., deute das als Wiedergeburt im Geist des Novalis, freilich luziferischem Einschlag.

    Früh zu Picasso. Finde dort M., der im Ruche der Männerminne steht; abscheulich. Gespräch über die Anarchie des Beistrichs seit Henri Bergson, gebe die Bedeutung des Nullpunkts zur Replik, über dessen Struktur sich der Hausherr verliert.

    Mittags Sardinen, dann in den Elysäischen Gärten, die ich bei schönem Flor finde. Im Halbschlaf auf einer Bank lebhaft mit Großvater Dominik kommuniziert, was Ausblick auf Unaussprechliches geben sollte.

    *

    „Tous les genres sont bons, hors le genre ennuyeux.“ Einer der Irrtümer Voltaires.

    *

    Nachts Träume. Sah mich in einer Leimfabrik, die wilden Urworte der Menschheit abtragend, dann dazu verurteilt, meine Quisquilien ins Unermeßliche fortzusetzen. Erwachte durch ein dämonisches „Sauve qui peut!“ der alten Portiersfrau. Doch schrieb ich das starker Einbildungskraft zu.

    *

    Berufswunsch: Seifenkistlfahrer.

    Paris, 29. September

    Der Transport des Frühstücks bereitet Schwierigkeiten, weil keine Verpackungsstoffe zur Hand. Greife nach diesem Album, an Plinius den Älteren denkend (bei Pl. d. J. ep. III, 5, 10): „Nullus est liber tam malus, ut non aliqua parte prosit.“

    Sed non possumus ...

    *

    Ja der phototropistiche Stil!

    *

    Nachmittags im Friedhof Batignolles, wo ich alle Hoffnung begrub, jemals wesentlicher zu werden. Verweilte am Grabe Verlaines, das eine Viola odorata L. schmückte. Brach mir ein Stenglein davon.

    Kleines Streiflicht: Nicht jeder Dichter hat nach sechzig Jahren noch Blumen auf seinem Grab.


    Parodie auf Ernst Jüngers Tagebuch "Strahlungen" (1949).
    © Wolfgang Buhl. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors. Jede kommerzielle Verwendung dieses Textes ist untersagt!

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