
Karl Hoche
Das Kollektiv »Rotzjunge« (Rote Zelle Junge Literatur):
Waffe im Klassenkampf
Der herrschende Kalender ist der Kalender der Herrschenden. Viele rezipieren, wenige konzipieren ihn. Indem er vorgibt, die Ordnung der Monate,
Wochen und Tage wiederzugeben, erzeugt und perpetuiert er sie. Die Elemente dieser Ordnung sind veränderbar, werden jedoch dem Volk als unveränderlich eingeredet. Ein Kalender, somit
auch der TeBe 1971, ist gesellschaftlich und dies in dreierlei Hinsicht. Als gesellschaftlich determinierter Gegenstand ist es ihm folglich immanent, die Interessen derjenigen Klasse, welche in der
Gesellschaft ihre Interessen durchsetzen kann, durchzusetzen. Dieses Kunstwerk wird im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit arbeitsteilig von Lohnabhängigen produziert, die
zugleich seiner Ordnung unterworfen sind. In dem Kalender wird das wahre Subjekt, die Arbeiterklasse, zum Objekt, und gesellschaftsschädliche Subjekte schwingen sich zum Subjekt auf. Er
wird verwertet durch den Vertriebsapparat, der in der kapitalistischen Gesellschaft nur ein kapitalistischer sein kann. Es sind daher die Interessen des Kapitals, welche beispielsweise als
ästhetisches Surplus den Zeitpunkt des Sonnenauf- und -untergangs bestimmen und diesen damit zur Ware machen. Ihr Büttel ist die Naturwissenschaft, deren Vertreter noch heute
unkritisch Atomreaktoren bauen, ohne den Wunsch des Volkes nach einem kritischen Reaktor zu erfüllen, und die damit den Widerspruch zwischen dem Niveau der Produktivkräfte und den
gesellschaftlichen Verhältnissen beweisen. Die Handlangerdienste abhängiger Naturwissenschaftler bei der Produktion des Kalenders dienen dazu, im Volk Ehrfurcht vor den darin
abgedruckten, sogenannten objektiven Tatsachen zu erzeugen. Im Winter gibt es kürzere Tage statt längere, aber niemand fragt warum. Die Antwort ist, daß nur so die Energiewirtschaft
als Teil der kapitalistischen Ökonomie im Winter ihre Spitzenprofite akkumuliert. Der Rhythmus der Sieben-Tage-Woche tradiert den Mythos von der Erschaffung der Welt in sieben Tagen
durch ein Wesen, das die bürgerliche Gesellschaft als höchste Stufe ihrer Hierarchie projiziert. Dazu gehört, daß sich zwar solche vorwissenschaftlichen
Überbauphänomene wie etwa »Mariae Himmelfahrt« finden, man andererseits aber die gesamten Daten der Arbeiterbewegung, also der Menschwerdung des Menschen, unterdrückt,
so etwa den Tag, an welchem die Dienstmagd von Karl Marx ihrem Herrn in einem dialektisch vermittelten Prozeß einen neuen kleinen Kämpfer gegen Unterdrückung und Ausbeutung gebar.
Daher wird in dem Kalender objektiv der irrationale Terror manifest. Der Versuch, dies zu verschleiern, indem er die Sonntage rot druckt, macht ihn zu einem Komplizen des heuchlerischen
bürgerlichen Pluralismus. Denn das Wochenende ist nur eine Funktion der Entfremdung durch die Arbeitswoche, es potenziert diese Entfremdung noch, da es sie um so deutlicher bewußt
macht. Indem der Kalender den von ihm als Freizeit angesehenen Raum normiert, verändert er ihn zur Kenntlichkeit. Als Stundenplan der Leistungsgesellschaft ist er somit ein Teil der
Verdinglichung des Menschen. Die rote Einfärbung der Sonntage dient den Interessen der Profitmaximierung der Herrschenden, sie suggeriert, daß die Volkswirtschaft bei zu vielen
Feiertagen in die roten Zahlen kommt. Daß diese angeblich ehernen Gesetze der Wirtschaft für die sozialistischen Staaten nicht gelten, zeigt das Beispiel Volkspolens. Ferner dient die rote
Farbe dazu, den Kalender den im sozialistischen Lager erscheinenden ähnlich zu machen, die mit der Kennzeichnung der Sonntage ebenfalls so verfahren. Sie degradiert so dieses Machwerk
zu einem Erfüllungsgehilfen der Konvergenztheorie. Denn was im Kapitalismus Unsinn ist, hat im Sozialismus Sinn, da dort die Entfremdung des Menschen aufgehoben ist, wie sich bei der
Kafka-Konferenz in der Tschechoslowakei gezeigt hat. In diesen Ländern produziert das Proletariat seinen eigenen Kalender. So hat es zum Beispiel erst sehr spät den Samstag als Arbeitstag
im hegelianischen Sinne aufgehoben, um im Klassenkampf gegen den Weltimperialismus weiterhin siegreich zu sein. Diese Tatsachen werden von der kapitalistischen Bewußtseinsindustrie
verschleiert.
Der reaktionäre Gehalt dieses Kalenders entlarvt sich jedoch völlig in dessen Anhang. Die vergesellschaftete Erfahrung des
historischen Materialismus, wonach es objektive Gesetze der Geschichte gibt (Näheres im Manifest), ist in dem Wort »Weltzeituhr« auf den Begriff gebracht. Der Kalender
unterdrückt diese Erkenntnis, indem er unter diesen Begriff eine Reihe von Städten stellt und dazuschreibt, wie spät es dort ist, wenn es in der Selbständigen Politischen
Einheit Westberlin oder in der Hauptstadt der DDR (der Kalender sagt verschleiernd »Berlin«) 12 Uhr ist. Die herrschende Klasse verdinglicht die revolutionäre Erkenntnis von der
»Weltzeituhr«, für sie ist der Hort der Reaktion, die Stadt der Springerpresse, des Bürgermeisters Schütz und des Polizisten Kurras der Maßstab, nach welchem die
gesamte Bundesrepublik noch weiter auf Rechtskurs gebracht werden soll. Der Kalender verschweigt, daß es in Berlin 5 vor 12 ist, und daß in allen Städten der westlichen Welt die
Stunde des Spätkapitalismus geschlagen hat. Die Städte selbst sind nach den Regeln des Alphabets aufgestellt. Damit wird die richtige Reihenfolge, nämlich der Stand, den der permanent
revolutionäre Kampf in der jeweiligen Metropole erreicht hat, mißachtet. Es ist lediglich ein von den Oberen gern gesehener Zufall, daß eine Stadt mit hohem revolutionären
Bewußtsein, nämlich Algier an der Spitze steht, es hätte ebensogut das vom Anarchismus verseuchte Amsterdam sein können. Die abstrakte, Fairness vortäuschende Ordnung
des Alphabets verfälscht somit die Wirklichkeit und erweist das Alphabet wieder einmal als konterrevolutionär.
Neben den Postgebühren ist Raum gelassen für die Eintragung der vom Revisionisten Leber erzwungenen erhöhten Ausbeutung durch die
Erhöhung der Postgebühren. Der Preis des Kalenders beträgt 3,15 DM, einschließlich der Mehrwertsteuer, die den Eindruck erwecken soll, als müßte der privat
angeeignete Mehrwert versteuert werden. Er unterläßt jeden Versuch, sich mit diesen Tatsachen kritisch zu vermitteln, er registriert nur und partizipiert so an der Inhumanität einer
Gesellschaft, deren Trademark die Napalmbombe ist. Am Schluß gibt es einen »freien« Raum für Notizen. Aber die Herrschenden fürchten sich vor dem Tag, an dem das Volk frei
seine Geschicke bestimmen wird. So haben sie diesen prinzipiell emanzipatorischen Raum untergliedert in Einzelblätter, von denen jedes zu einem Buchstaben des Alphabets gehört und so einen
Grundwiderspruch dieser Gesellschaft enthüllt. Das soll, so wird man es zu rechtfertigen versuchen, der »Übersichtlichkeit« der Notizen dienen. Aber übersichtlich wird
damit nur die Initiative des Volkes gehalten, es soll bei allen seinen Handlungen immer das Gefühl haben, nicht wirklich frei zu handeln, das bedeutet, das Reich der Freiheit nicht antizipieren
zu dürfen. Erneut erweist sich damit das Alphabet als das Alpha und Omega des Faschismus. Erst seine Zerschlagung und die freie Bestimmung der Sonnenauf- und -untergänge durch das Volk wird
dessen Befreiung bedeuten. Dann gibt es keine »Maße und Gewichte« mehr, denn das Volk ist sein eigenes Maß, dann verschwindet die »Zinsdivisoren-Tabelle«, da der
Zins als die Verdienstrate des Kapitals abgeschafft und durch die Solidarität der Werktätigen ersetzt wird, dann gibt es auch keine »Deutsche
Kraftfahrzeug-Kennzeichen« mehr, weil der Sozialismus in einer Negation der Negation den anti-emanzipatorischen Konsumfetisch Kraftfahrzeug beseitigt. Die vorhandenen Autos werden von den
Beauftragten der Arbeiterklasse im Kampf um den Aufbau des Sozialismus benützt, und ihre fehlende Quantität schlägt in eine bis dahin völlig unbekannte neue Qualität um. Die
dann nötige Basisarbeit bringt aus der Praxis neue Elemente in die revolutionäre Theorie ein. Die Automobile werden so endlich zu sich selbst gebracht.
Mit diesem Kalender zählen die Herrschenden den Beherrschten die Tage vor, aber die Tage der Herrschenden sind
gezählt.
Parodie auf gewisse »linke« Uni-Infos aus der Zeit kurz nach 1968. Das Beispiel stammt aus der Reihe »Der TeBe-Taschenkalender im Widerstreit der
Meinungen«.
Quelle: Karl Hoche, Schreibmaschinentypen und andere Parodien, München 1972.
Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung Karl Hoches. Jede Vervielfältigung dieses Textes ohne Einwilligung des Autors ist untersagt!
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