Erlanger Liste



Karl Hoche

Der kleine Unterschleif

Nach Alice Schwarzer

Alice Schwarzer, Feministin, sagt, es gäbe nur einen klitoralen, aber keinen vaginalen Orgasmus. Damit sei der Geschlechtsverkehr (von ihr »Penetrieren« bzw. »Schwanzficken« genannt) überflüssig. Sie befragte vierzehn Frauen (darunter drei erklärte Lesbierinnen, eine Prostituierte und eine Frau mit schizophrenen Schüben), fand bei ihnen ihre Meinung bestätigt und druckte die Interviews in ihrem Buch Der kleine Unterschied und seine großen Folgen ab.

In ihrem demnächst erscheinenden Band Der kleine Unterschleif klärt Frau Schwarzer den jahrtausendealten Irrtum auf, daß Menschen essen und trinken müssen oder auch nur möchten. Wir veröffentlichen hier im Vorabdruck drei Interviews aus diesem Band.


l. Manfred S., 35 Jahre, Diätassistent, geschieden, die beiden Kinder leben bei der Mutter

Den Tip, mit Manfred zu reden, bekam ich von einem Internisten. Wenn Sie wirklich mit jemandem sprechen wollen, der über das Essen Bescheid weiß, dann rufen Sie doch mal Herrn S. an, hatte dieser mir versichert.

Manfred S. wohnt in einem mittelgroßen Ort, direkt gegenüber dem Lebensmittelgeschäft einer Handelskette. »Das macht mir überhaupt nichts aus«, sagt der jungenhaft schlank wirkende Mann, als er mich in seine Wohnung hineinbittet. Mit großer innerer Souveränität führt er mich gleich vor seinen leeren Kühlschrank, in welchem er seinen Goldhamster untergebracht hat. »Den habe ich schon seit sechs Jahren abgeschaltet«, sagt er beiläufig.

Auch Manfred war in einer Familie aufgewachsen, in welcher Essen und Trinken selbstverständlich waren. »So selbstverständlich, daß man darüber eigentlich nur redete, wenn das Essen angebrannt war.« Kein Wunder, daß Manfred in seiner Kindheit und frühen Jugend aß und trank, ohne auch nur eine Sekunde über alle diese anerzogenen Mechanismen zu reflektieren. Natürlich hatte er nie davon gehört, daß schon zu dieser Zeit fortgeschrittene Wissenschaftler herausgefunden hatten, daß die Geschmacksnerven alle im vorderen Teil des Mundes sitzen, daß also das Hinunterschlucken nicht nur überflüssig, sondern sogar schädlich ist, man denke nur an den immer wieder auftretenden Fall, daß jemand giftige Pilze ißt.

Als Manfred fünfundzwanzig Jahre alt war, änderte sich seine Situation. »Zuerst dachte ich, die Schmerzen kämen von einer ganz normalen Gastritis, aber bald erfuhr ich, daß es schlimmer war. Die ständige Zufuhr von Nahrungsmitteln hatte in meinem Magen ein Geschwür erzeugt.« Manfred konsultierte eine Reihe von Ärzten, schließlich stellte es sich heraus, daß sein Körper auf die jahrelange Qual auf seine Weise reagiert hatte; der Befund lautete auf Magenkrebs.

»Langsam fing ich an, die Dinge ganz anders zu sehen«, sagt Manfred und trinkt einen Schluck Mineralwasser. Er dachte nicht nur darüber nach, woher die ganze Misere gekommen war, nämlich vom Essen, sondern daß es auch anders gehen müsse. Diese Überlegungen verstärkten sich, als sich herausstellte, daß Metastasen des Geschwürs sich auch im Dickdarm und im Zwölffingerdarm gebildet hatten, die operativ zusammen mit einem Großteil des gesamten Verdauungsapparates entfernt wurden. »Es war ein langer Prozeß«, sagt Manfred, zieht die leicht verrutschte Hose nach oben und schnallt den Gürtel etwas enger, »aber ich habe viel gelernt und lasse mich nicht mehr von überholten Normen herumkommandieren.«

Der Fall Manfred S. zeigt, daß es insbesondere die Randgruppen (Magenoperierte, Zuckerkranke, Drüsengestörte etc.) sind, in denen die richtigen Erkenntnisse über den Stellenwert des Essens und Trinkens in dieser Gesellschaft sich durchsetzen. Es ist daher kein Zufall, daß in dieser Untersuchung insbesondere Angehörige von Randgruppen zu Worte kommen, sind sie doch der in der Bewußtseinsbildung fortgeschrittenste Teil unseres Volkes, dem die Probleme besonders auf den Nägeln brennen.


2. Jolanthe P., 25 Jahre, Mannequin, verheiratet, kein Kind

Jolanthe fällt in jeder Hinsicht aus dem Rahmen. Sie ist organisch völlig gesund, widerlegt also das immer wieder von interessierter Seite in die Debatte geführte Argument, daß nur Kranke nicht essen wollen. »Ich bin kein bißchen krank«, sagt sie nicht ohne Stolz. Aber Jolanthe ist noch in einer anderen Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung. »Ich bringe zur Zeit 235 Pfund auf die Waage«, sagt sie mit einem leisen Ächzen. Bei l,67 m ist das eine ganze Menge, und man sieht es ihr auch an. Daß dieser jungen, lebenslustigen Frau im Lauf der Zeit einige Erkenntnisse über die Schädlichkeit des Essens kommen mußten, war vorauszusehen. »Da ein Stück Torte, dort ein Mayonnaisesalat, und zur Verdauung meine drei, vier Bierchen«, so konnte sie ihre Probleme ganz gewiß nicht lösen. »Der größte Unfug ist das Gaumenessen«, sagt sie, also eine Form der Nahrungsaufnahme, bei der die Speisen den völlig empfindungslosen Gaumen passieren. »Mein Aha-Erlebnis hatte ich, als plötzlich mitten auf der Straße ein Mann in mich hineinrannte, der sich damit entschuldigte, daß er kurzsichtig sei und daß er mich für zwei Frauen gehalten hätte, zwischen denen er hindurchgehen wollte«. Das war für Jolanthe der Durchbruch. Und mit der ihr eigenen Konsequenz, Tüchtigkeit und Zähigkeit, beschritt sie nun ihren Weg. Sie machte Nulldiät. »Das Hungergefühl ist eine Sache der ersten zwei, drei Tage«, sagt sie, »dann ist es weg.« Auf die Frage, wie lange sie es schon macht, antwortet der gerade hereingekommene Ehemann »seit heute morgen«. Er selbst hat zwar »eine andere Vorstellung vom Essen«, wie er sagt, aber wir sind überzeugt, daß die resolute Jolanthe in ihrem Mann da noch einige Bewußtseinsprozesse in Gang setzen wird, und ihr verschwörerisches Zublinzeln bestärkt uns darin.

Sie hat sich »mit noch fünf anderen Nullen« zu einer Null-Diät-Gruppe zusammengeschlossen und tauscht mit ihren Schicksalsgenossen ständig Erfahrungen aus. »Das hat mich sehr gestärkt.«

Das Gespräch mit Jolanthe P. hat uns deutlich gemacht, daß auch das Nachdenken über die eigene Situation jemanden dazu veranlassen kann, einer immer stärker dem Essen verfallenen, also einer essistischen Gesellschaft, aktiv Widerstand zu leisten. Auch die Arbeit in der Gruppe hat viel dazu beigetragen, Jolanthes ohnehin schon breiten Rücken noch mehr zu stärken. Alle die vielen Jolanthes, die wir tagtäglich in den Straßen sehen können, werden mit uns zusammen einst eine freie, das heißt, eine vom Zwang des Essens freie Gesellschaft verwirklichen.


3. Botho V., 42 Jahre, ledig, keine Kinder, Anstaltsinsasse

Bis zu Botho V. durchzudringen, war gar nicht so einfach. Da er in der geschlossenen Abteilung einer Nervenheilanstalt einsitzt, ein Indiz dafür, daß unsere Gesellschaft seine Erkenntnisse nicht erträgt, bedurfte es einer Menge Formalitäten, bis mir der Zugang zu ihm erlaubt wurde.

In seiner gut ausgepolsterten Zelle trat mir ein knochiger Mann entgegen, der mich lächelnd begrüßte. Bothos Verhältnis zu Essen und Trinken wurde schon sehr früh in seinem Elternhaus geprägt. Sein Vater trank entschieden zuviel und starb im Delirium tremens, als Botho drei Jahre alt war. Seine Mutter verfiel daraufhin in das entgegengesetzte Extrem, sie aß zuwenig. Das heißt, sie wurde magersüchtig, verweigerte die therapeutische Behandlung und starb an Unterernährung. »Diese beiden Faktoren haben mich gelehrt, die Essensfrage theoretisch zu durchdenken, und haben mich schon frühzeitig zu gewissen Erkenntnissen gebracht.« An dieser Stelle wird unser Gespräch unterbrochen, da drei stämmige Aufsichtspersonen den schreienden und strampelnden Botho zur Zwangsernährung wegschleifen. Sobald er wieder zurück ist, erläutert er mir die von ihm entwickelte Theorie der Nahrungsverweigerung. Sie weist ihn als den führenden Denker der neuen Bewegung aus. »Der Mensch besteht aus Körper und Geist«, beginnt Botho, »er lebt in einem Weltzusammenhang, wo er beiden Bereichen, der körperlichen und der geistigen Welt, gleichermaßen angehört.« Als Zwischenglied sei es seine Aufgabe, den Bereich des Geistigen in seiner eigenen privaten und historisch-gattungsmäßigen Entwicklung immer weiter auszubreiten. Die Nahrung gehöre jedoch der materiellen Welt an, fessele ihn weiterhin an diese Welt und sei daher im Sinne ihrer Vergeistigung abzulehnen. Botho V. lebt richtig auf, als er mir seine Theorie entwickelt, die lebhaften Augen in seinem sehr schmalen Gesicht flackern, er springt auf, bricht in Schreie aus, so daß die Wärter ängstlich mich zu schützen suchen. Aber das ist natürlich nicht nötig, ich kann Bothos lang aufgestaute Emotionen gut verstehen. Die hier angewandte Isolationsfolter macht es auch verständlich, daß er sich dazwischen einmal kurz als die Schwiegermutter von Jesus Christus bezeichnet, ein sicherlich interessanter Hinweis, dem ich aber, da er zu weit abführen würde, nicht weiter nachgehe.

Botho war ein Flaschenkind, das von seinem stets betrunkenen Vater zu oft mit der falschen Flasche gefüttert wurde. Auch dies sei, so Botho, seiner Fähigkeit, Theorien aufzubauen, entgegengekommen. Botho hat also immer brav die Flasche genommen und auch später keine Schwierigkeiten mit dem Essen gemacht. Erst beim Tod seiner Mutter lernt er verstehen, daß die Mutter durch die Ablehnung des Eßzwangs gestorben ist. Gäbe es diesen Zwang nicht, dann wäre sie noch am Leben. Kaum hat Botho das erkannt, da verweigert er strikt die Nahrungsaufnahme, und sein Leidensweg über Arztpraxen, Krankenhäuser und Nervenheilanstalten beginnt. Mir hat das Gespräch mit ihm viel Kraft gegeben und einen schärferen Blick für die ideologischen Vorurteile einer essistischen Gesellschaft.

Der Fall Botho V., der ja erst durch die Gesellschaft zum Fall gemacht wurde, zeigt mit aller Deutlichkeit, aus welchen Gründen diese Gesellschaft den wachsten und vernünftigsten Teil der Menschen unseres Volkes zu Irren stempelt. Er zeigt weiterhin, daß in diesem Land die klarsten Denker und besten Ideologen nicht nur im Irrenhaus sitzen, sondern daß dort der einzig ihnen zukommende Platz ist, wenn man die auf das Fressen fixierte Geisteshaltung der sogenannten »Normalen« bedenkt.



Vorlage der Parodie ist Alice Schwarzers »Der kleine Unterschied und seine großen Folgen« (1975).
Quelle: Das Hoche Lied. Satiren und Parodien, Wien/Hamburg 1976.

Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung Karl Hoches. Jede Vervielfältigung dieses Textes ohne Einwilligung des Autors ist untersagt!

Zurueck Blättern Vor

Start Startseite