Erlanger Liste



    Christian Morgenstern

    Knochenfraß

    Naturalistische Handlung vom Ende der 80er Jahre
    (Berliner Schule)
    (Fragment)

    ZWEITER VORGANG

    Ein kleines, viereckiges, den Eindruck der Vernachlässigung bietendes Zimmer. Die Diele ist acht Tage lang nicht mehr naß gescheuert worden. Rechts vorn sind ein paar violettbräunliche Stiefelabdrücke (eigenwillig auftretender Frauenfuß) auf dem fadenscheinigen, rotgrünen, mit bleifarbenen, eiförmigen Mustern getupften Teppich zu bemerken. Die Tapete ist von jenem feuchten ungesunden Blau, wie man es in ganz neuen Häusern zu finden pflegt; nervöse, hektisch rote Phantasie-Ornamente verstärken den trostlosen Eindruck. Links hinten, etwa beim siebenten Ornament von unten, baumelt ein Stück der Tapete, in schiefem Winkel gewaltsam abgerissen, herab; dahinter sieht man den gelblich schmutzigen und bereits abbröckelnden Kalk der Mauer. Aus der angeräucherten Decke ragt ein rostiger Haken, der von rechts nach links (vom Zuschauer aus) gekrümmt, früher offenbar eine Lampe trug. Jetzt hängt nur ein lilafarbener Wollfaden herunter, auf dessen unterer Partie eine stahlgrün schillernde Schmeißfliege sitzt. Die wässerig-gelben Möbel sind teilweise völlig ruiniert. Die einwärts gebogenen Tischbeine an der Innenseite abgeschurrt. Aus dem halboffenen, dreifüßigen Kleiderschrank dringt erstickender Geruch. Eine bräunlicbe, ins Lachsfarbige verschießende Weste pendelt verträumt an einem Holznagel. Im Winkel rechts hinten liegt eine wimmernde Masse. Eine schwammige wimmernde Masse. Ein aschfahles Gesicht wickelt sich aus den Fetzen eines türkischen Shawls. Durch die dicke Dämmerung dunstet ein grünlich-schleimiges Lallen.
    Die Tür wird aufgestoßen. Ein Weib in Lumpen trampst herein. Mitte Vierziger. Fett. Kolporteuse-Manieren.

    „Nabend!“ (Schnubbert in die Alkohol-Atmosphäre. Geht nach hinten,
    stößt mit dem linken Fuß ärgerlich nach dem türkischen Shawl.)

    „Hat sich der olle Knerjel wieder beschikkert wie ne Sackstrippe.“
    (Mit häßlichem Mienenausdruck):
    „Na, wart’, du Lerge, du - dat soll dir sauer uffstoßen. Verbubanzt mich meene eenzige Schabracke.“
    (Der Shawl wird langsam lebendig.)


    Parodie auf das naturalistische Drama, insbesondere auf den exzessiven Gebrauch von Bühnen-Anweisungen.
    Blättern

    Startseite