Erlanger Liste



    Christian Morgenstern

Das Gebet

Die Rehlein beten zur Nacht,
hab acht!

Halb neun!

Halb zehn!

Halb elf!

Halb zwölf!

Zwölf!
Die Rehlein beten zur Nacht,
hab acht!
Sie falten die kleinen Zehlein,
die Rehlein.


    Reh: Cervus capreolus L., aus der Familie der Hirsche, 1,25 m lang, bis 30 kg schwer, in Europa bis 58. nördlicher Breite, auch in Asien. Vgl. Dombrowski (1876), Eulefeld (1896).


    Parodie auf Friedrich Nietzsches Gedicht " O Mensch! Gib acht!" aus "Also sprach Zarathustra".
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    Noch ein Gesang Walt Whitmans

    Der Zimmergesang der Demokratie

    Ich singe den Gesang meines Zimmers.
    Ich singe den Gesang meiner Tapete, meines Plafonds, meines Fußbodens, meiner Türen, meiner Fenster, meiner Umzimmer, Unter- und Überzimmer.
    Ich singe die Lampe, die aus dem Zentrum herabhängt.
    Ich singe den Ofen in der Ecke, breitspurig, hervortretend, seine Verzierung auf der Brust.
    Ich singe die drei andern Ecken leer oder gefüllt mit Schränken, Büsten, Wandbrettern, rechtwinklig laufend nach rechts oder links.
    Ich singe den Teppich, den Tisch und die Stühle. Waagrecht liegt er am Booden. Senkrecht setzen sie ihre Beine auf seine Fläche.
    Ich singe die Bilder und Karten an der einen Wand. Jedes nach seiner Weise.
    Ich singe die Bilder und Spiegel an der andern Wand. Ein jedes auf seine Weise.
    Den Schreibtisch besinge ich und seine Bücher, Blätter, Federn, Gestelle, Uhren, Schiebladen, Schlösser, Tintenfaß, Löschapparat, Briefauftrenner, Kuverts, große und kleine, den silbernen Trinkbecher, das Kalenderbuch, das Petschaft, die blaue Schachtel mit dem unzerbrechlichen Bleistift Koh-i-noor.
    Ich singe den Pendel der großen Uhr, wenn er hin- und herschwankt.
    Ich singe die Gardinen, weiß, mit den Mustern der Fabriken, durchbrochen, fallend nach links und rechts.
    Ich singe den messingenen Fenstergriff, blank, sauber. Das Mädchen putzt ihn jeden Morgen. Das flinke, gemietete Mädchen aus Ruppin, im Norden der Mark.
    Tretet herein, Freunde!

    Hier ist mein Zimmer!
    Sauerstoff, Stickstoff, Licht, Wärme, Luftdruck (doch nur so viel wie gerade recht), weiche Kissen oder ein Divan (denn ihr könntet müde geworden sein), ein Apfel, eine Birne, beides aus Borsdorf, in einer Kiste geschickt, Stroh, Papier herum von fürsorglichen Händen.
    Oder wenn ihr Wein wollt?
    Herein tritt der Kaufmann, zwei Stock tiefer. Er sieht sich um. Höflich zieht er den Hut. Er fragt mit lauter Stimme.
    Er nennt uns seine Weine:
    Den Zeltinger, den Brauneberger, den Nierensteiner, den Rauenthaler, den Rauenthaler Berg, den Rüdesheimer, den Geisenheimer, den St.Julien, den Médoc, den Pontet Canet, den Marcobrunner, den Kaisersekt, die Veuve Cliquot, den Pomery Greno, den Heidsick Monopol.
    Wählt meine Freunde. Laßt ihn bringen, was er hat. Mein Zimmer ist groß genug dazu.
    Mein Zimmer ist nicht nur mein Zimmer. Mein Zimmer ist die Welt, the world, orbis pictus.
    Hört mich an, Ihr Zimmerbewohner aller fünf Weltteile!
    Große Zimmergenossenschaft der Demokratie!
    Camerados!
    Singt mit mir den Zimmergesang, den millionenhaften!
    Singt mit mir den Zimmergesang der Demokratie!


    Parodie auf Walt Whitmans "Leaves of Grass".
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