Erlanger Liste



    Anonym I

    SUHRKAMP UND ALDI (3)


    Theorie


    Georges Duby
    Die Zeit der Cartonagen
    Zur Sozialgeschichte
    einer Verschirmung
    Aus dem Französischen von
    Grete Osterwald
    620 Seiten. Engl. brosch. Mit
    zahlreichen Faltkartons und 1 Kordel.
    DM 22,-


    In seinem neuen, nun in deutscher Edition in der edition sual vorliegenden Buch befaßt sich der französische Historiker Georges Duby mit dem, was in der verplatteten Sprache einer begriffslosen Gegenwart Verpackung oder gar Karton heißt. Duby zeigt, daß es so einfach nicht ist: immer schon war der umhüllte Gegenstand zugleich ein verschirmter , und umgekehrt: immer korrespondierte dem Ent -Packen ein Ver -Packen.
    Ausgehend von dem durch Papst Cordelian IV der Häresie verdächtigten Orden der Cartoniten, macht Duby deutlich, daß das Um-Hüllen - vor allem im ausgehenden Mittelalter - ein populistisch-sakraler Akt war, der endzeitliche Visionen mit dem Motiv der "verkehrten Welt", in der das Unterste zuoberst gekehrt ist, verband, so gelingt es Duby, einen entscheidenden Schritt über sein - bei Suhrkamp vorliegendes - Werk "Die Zeit der Kathedralen" hinauszugehen. Anhand einer Fülle historischen Materials, beweist der Autor uns, daß viele der mittelalterlichen Kathedralen nichts anderes waren, als packend-verpackte Subversionen, als Verschirmungen (Duby), die - im überwölbten Raum - dem Dissens Ort gaben. In einem ausführlichen Anhang verfolgt Duby die mähliche Profanisierung dieser Idee bis hin zum entzauberten Karton der Moderne.




    Franz Böni
    Dosenwärts
    Wahrengedichte
    32 S. Kart. DM 8,80


    Das lyrische Ich des Franz Böni, der von Haus aus recht eigentlich Erzähler ist, und der hier erstmals seinen ersten Gedichtband vorlegt, versichert sich seiner selbst, indem es sich vom durch materialistisches Vernünfteln verordneten Zwangsbegriff einer Gesellschaft der Tauschbeziehungen radikal lossagt und so die metallurgische Symbolik eines ursprünglichen Schöpfungsaktes zurückgewinnt, die Böni runenhaft verschimmert im kühlen Dosenblech verzeichnet erkennt und entziffert. Seine lyrische Sensibilität packt die Dose nicht als das allverstellende Zivilisationsprodukt auf dem immer-gesuchten Weg zum Inhalt. Vielmehr begreift Böni schlußendlich das scheinbar Verstellende selber als das Archaisch-Wesenhafte, das jedwedem zivilisatorischen Prozeß seine subalterne Rolle im heiligen, lebendigen Organismus der Natur zuweist.

    Gleichsam im Schoß der Poesie Bönis entwickeln sich Embryonen lebendiger Wesen, die insistent auf den Dichter rückverweisen. Dergestalt zeugungs- und zeugnisfähig, greift Böni in den vermeintlichen Entwicklungsprozeß der Geschichte, bildet demgegenüber lyrische Gens schichten und setzt sich selber endlich an die Stelle der Zeit. Damit atmet diese nun in der edition sual vorliegende lyrische Karawane, zu der sich die einzelnen Gedichte im metaphorischen Paßgang ordinieren, die gleichmäßige Ereignislosigkeit von Bönis Prosa.


    Thomas Brasch
    Berlin, Scheißdreieck
    Grenzgänge im
    Belanglosen
    Im Anhang: "Wie kurz oder
    wie lang sind kreuzberger
    Nächte, und zu welchem Ende
    studiert man sie
    eigentlich?" (aus
    dem Neugriechischen
    rückübersetzt von
    Peter Stein)
    128 S. Kart. DM 7,70


    Ein weiteres Mal hat der Poet, Stückeschreiber, Filmer und Prosaist Thomas Brasch dem scheinbar so widersetzlichen und in sich abgekapselten Nichts einen Schimmer von Münze abgerungen: sah Beckett noch im Nichts - allen Unkenrufen zum Trotz - ein finales Paradigma, rückt Brasch in dem nun in der edition sual vorliegenden Band der Konzeption des Paradigma selber auf den Leib. So gelingt es ihm, auch noch dem Nichts ein Dröhnen zu entlocken, das - süffisante Paralipse der Geschichte - so zugleich erhaben und banal ist wie ein Paket Dash. Brash: "Schreibend zerstöre ich Berlin, schreibend baue ich es wieder auf. Berlin ist ich, ich bin Berlin. Kennedy war ein armer Wichser."



    Reto Hänny
    Kreuzberg, Ende September
    Erzählung
    142 S. Kart. DM 7,-


    "Doch sie wird sicher wieder stehen, Blondie, in Kreuzberg, stemmt Pflaster hoch, haut Hüte von den Köpfen, reißt an Colabüchsenlaschen, daß es nur so kracht. Sie ist jung - so stark. Und drauf und dran. Möchte mit beiden Armen das Beton auseinanderschieben und alles mit den andern auf die Schultern nehmen und in ein unbekanntes Land versetzen. Sie denkt nicht zielgerichtet, sondern sozusagen radioaktiv ... "

    Das klingt hart, wie von Stein, aber von Stein ist er nicht, der dies schrieb. Der noch junge Reto Hänny - ein Autor seiner Generation - hat mit der nun in der edition sual vorliegenden Erzählung gerade den zweiten Teil seiner auf zehn Stückwerke angelegten "condition cravalle" vollendet. Hänny ist jedoch nicht, wie glaubten und eine Minderheit erwartete, einer eingebahnten Spur gefolgt, hat sich nicht, wie Der Spiegel voreilig unkte, von Brand zu Brand gehangelt.

    Hänny hat vielmehr in dieser einfühlsamen Erzählung den Weg eines kreuzberger Punk-Mädels gezeichnet, das über die Teilhabe an sozialen Unruhen, ja durch sie hindurch zu einer scheinbar konservativ-traditionellen Frauenrolle zurückfindet. Das überrascht. Und auch nicht, denn die ruckhafte Rhythmisierung seiner Prosa verweist auf Brüche in der Logik unserer aller Gesellschaft, denen Hänny nicht ausweicht, sondern die er fruchtbar zu machen versteht - und sei es auch nur für das - galaktisch gesehen - kleine Schicksal eines kreuzberger Mädels.

    Die Plünderung einer Aldi-Filiale (hier hat Hänny keine Rücksicht auf ein mögliches Veto der Aldi-Zentrale genommen), an der Blondie teilhat, und die emphatische Selbstentdeckung ihrer durchaus selbstischen Weiblichkeit, die nichts mehr mit der immer schon vorgelebt-oktroyierten Weiblichkeit patriarchalischer Wertverordnung gemein hat, stehen einander wie erratische Blöcke gegenüber, sind - in bestem Sinne - Schlüsselszenen. Hänny hat an hochbrisantem Stoff Brisanz geschaffen, die sich nicht gleich pathetisch überschlägt, wenn es im Fortgang der Erzählung zu Ungereimtheiten kommt.

    Nach Abschluß der "condition cravalle" wird das gesamte Werk im praktischen Zehner-Pack erhältlich sein.



    Noam Chomsky
    Esperaldi
    Ein transformatives Kochbuch
    Mit einem Palmin-Stück
    von Joseph Beuys
    und einem Essay
    von Roland Barthes:
    "Im Reich der
    Dosen"
    160 S. Gebunden. DM 16,98


    Chomsky, der "Vater" der transformativen Grammatik galt lange Zeit als esoterischer, dem Reich der Zeichen und ihrer generativen Interdependenzen verhafteter Linguist. Der nunmehr von der edition sual vorgelegte Band straft dieses Vorurteil Lügen: am Beispiel zeigt Chomsky, daß Generativität und die alltagspraktische Normalität des Kochens durchaus (Chomsky) Hand in Hand gehen können. Chomsky wäre freilich nicht Chomsky, vermöchte er nicht auf die selbstverständlichste Weise das generative Prinzip auch in der Kochkunst zum Tragen kommen zu lassen: wie in der Sprache die Sprachfähigkeit Worte, Wörter und Zeichen erzeugt, die wiederum Worte, Wörter und Zeichen erzeugen, so erzeugt die Kochfähigkeit beim Zubereiten z. B. von Saucen und Suppen apperzitive Symbolismen, die letztlich durchaus generativ wirken oder die - traditionell ausgedrückt - Rezepte und Rezepturen hecken. Chomsky zeigt überzeugend, daß Generativität und Kochkunst nicht nur keine Gegensätze, sondern geradezu identisch sind - zwar nicht erstmals im Zeitalter der Dosen-Kultur, aber in ihm doch den höchsten wie praktischsten Ausdruck findend.


    Parodie auf die Buchankündigungen des Suhrkamp Verlags
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