Georg
Philipp Harsdörffer - ein Nürnberger Barockautor im
Spannungsfeld heimischer Dichtungstraditionen und
europäischer Literaturkultur (I)
von Theodor
Verweyen
Zum 2.
Teil
Bibliographische Hinweise
Vorbemerkung
Der folgende
Text geht zurück auf einen am 14.07.2000 auf der
Mathematiker-Tagung „Kopf oder Zahl – Vom
Rechenpfennig zum Rechenchip“ des Cauchy-Forums gehaltenen
Vortrag. Das genannte Forum versteht sich als ein
Interdisziplinäres Forum für Mathematik und ihre
Grenzgebiete mit Sitz in Nürnberg. Der Vortragstext ist hier
unverändert wiedergegeben, hinzu gekommen sind lediglich
Anmerkungen und ein Anhang mit ausgewählten
bibliographischen Hinweisen zu
Harsdörffer.
Über den Schriftsteller Georg
Philipp Harsdörffer sprechen heißt einer Epoche und
Region der Kulturgeschichte Nürnbergs sich zuwenden, die
noch immer nicht zu den ausgemessenen und auch in der
Gegenwart nicht zu den sonderlich geschätzten
Literaturlandschaften der frühen Neuzeit gehört. Im
Kalendarium zur 950-Jahrfeier der Stadt beispielsweise
ist nicht ein einziger Veranstaltungstag jener 'epochal' zu
nennenden Literatur des Barock reserviert worden. Als 1994, um
ein weiteres Beispiel für die konsternierende
Vernachlässigung dieser Literatur zu nennen, an das
350-jährige Bestehen des "Pegnesischen Blumenordens" intra
muros erinnert werden sollte, war es ein amerikanischer
Germanist, der ein interdisziplinäres Kolloquium mit
internationaler Besetzung zusammenbrachte;1 die öffentlichen
Vorträge im Alten Rathaussaal freilich, von der
vielberufenen 'literarischen Öffentlichkeit' nicht
wahrgenommen, verhallten ungehört. Zudem ist
festzustellen, dass aufgrund vor allem mangelhafter
finanzieller Unterstützung eine zu Recht
großangelegte Edition der Schriften Sigmund von
Birkens, eines fürwahr barockliterarischen Eisberges,
nicht vom Fleck kommt, obwohl die Fachleute dazu noch vorhanden
sind.2 Vergleichbares ist bislang etwa für
Harsdörffer nicht einmal geplant, geschweige denn
skizziert worden. Darüber hinaus wird die Existenz
einer reichen theatralen Kunst im Nürnberg des 17.
Jahrhunderts in stadtgeschichtlichen Darstellungen bis
in die jüngste Gegenwart hartnäckig bestritten; soeben
indes konnte sie ihre erste angemessene Untersuchung in einer bei
mir entstandenen Dissertation finden.3 Ein letztes Beispiel
schließlich: Abgängern von Gymnasien Nürnbergs
und der Region habe ich in einem literaturwissenschaftlichen
Seminar des germanistischen Grundstudiums eher
beiläufig die Frage nach bedeutenden Autoren der
hiesigen Literaturlandschaft in der frühen Neuzeit gestellt,
die Antworten fielen desaströs aus: Namen wie die
von Konrad Celtis (dem in Wipfeld bei Schweinfurt
geborenen großen Humanisten am Kaiserhof zu Wien)
und Willibald Pirckheimer (dem seit 1495 bis zu seinem
Tod 1530 in Nürnberg wirkenden Eichstätter), von
Harsdörffer, Johann Klaj und Birken (allesamt
Mitgliedern des "Pegnesischen Blumenordens")
oder auch von Johann Peter Uz (dem in Ansbach geborenen und
gestorbenen Dichter der Anakreontik des 18.
Jahrhunderts) - samt und sonders sagten die Namen dieser
Autoren den künftigen ‚Kulturschaffenden’
und Deutschlehrern an Gymnasien nicht nur nichts, sie waren ihnen
nicht einmal mehr bekannt. Und die Reihe der negativen
Beispiele könnte ich nahezu beliebig fortsetzen,
zumal die Universität Erlangen-Nürnberg eine
Professur für fränkische Literaturgeschichte, die
als Pendant – natürlich - zum Lehrstuhl für
bayerische Literaturgeschichte in München eine gewisse
Abhilfe im kulturhistorischen Notstand würde leisten
können, nie hat einzurichten vermocht.
Nun, dieses ungefällige Tableau
allein schon gereicht dem Planer und Veranstalter der Tagung
so gut wie den hier versammelten Mathematikern und
ihren Kolleginnen ob ihrer Neugier auf den literarischen Kontext
des Verfassers der "Mathematischen Erquickstunden" zur Ehre.
Unterdessen stellt sich angesichts der, noch ganz und gar
oberflächlichen, Bilanz solcher in ihren Ausmaßen
ungewohnten Defizite allerdings die Frage, ob die
wissenschaftlichen Bemühungen um barockliterarisches
Traditionswissen überhaupt noch
begründungsfähig sind; ihre
Begründungsbedürftigkeit steht nach der Bilanz ja
außer Frage. Im folgenden werde ich versuchen, dazu
aus den Überlieferungen und
literaturwissenschaftlichen Forschungen über
Harsdörffer eine Antwort zu entwickeln.
Lassen Sie mich, bevor ich zur Sache
komme, noch einen Hinweis darauf geben, w i e die
Literaturgeschichtsschreibung - wenigstens teilweise - zu dem
Wissensfundus gelangte, aus dem ich Ihnen heute ein wenig
vortrage. Es ist nicht zuletzt prosopographischer Forschung,
d. h. literarhistorischer Rekonstruktion auf
personengeschichtlicher Grundlage zu verdanken, daß
wir heute im großen und ganzen über ein ziemlich
zuverlässiges Basiswissen in
literaturwissenschaftlich-methodischer und
literaturgeschichtlich-sachlicher Hinsicht zum 17. Jahrhundert
verfügen. Methodisch gewonnen wurde (und wird) dieses
Wissen aufgrund einer Vorgehensweise, bei der die
Lebensläufe von Gelehrten der Zeit nach einem bestimmten
Frageraster analysiert worden sind (und weiterhin
werden): zu den Gegenständen solcher auf die Kontexte
der Literatur und Künste zielenden Analysen gehört etwa
die sog. "peregrinatio academica" - also die, durch
reisepädagogisches Schrifttum gestützte, meistens
über Jahre hin dauernde und meistens auch ins Ausland
führende, Bildungsreise beispielsweise von Bibliothek
zu Bibliothek, von Universität zu Universität, von
Residenzstadt zu Residenzstadt und nicht zuletzt auch zu den
Höfen Europas; Analysegegenstand sind die Einträge des
auf der "peregrinatio" mitgeführten
Stammbuches - des "Album amicorum", das uns heute noch als
"Poesiealbum" geläufig ist; ferner gehören
dazu die Korrespondenzen der Gelehrten mit Kollegen und
Freunden sowie Studenten - Korrespondenzen, die bei nicht
wenigen Mitgliedern der "Gelehrtenrepublik"
aberhunderte, nicht selten auch in die Tausende gehende Briefe
umfassen; zudem sind es die Buchwidmungen und -zueignungen, mit
denen die "docti" ihres gegenseitigen Respekts sich versicherten;
darüber hinaus werden natürlich die Poesien, die
literarischen Sachtexte, die Kunstprodukte und multimedialen
Erzeugnisse selber untersucht, um ein gesichertes Bild der Kultur
der frühneuzeitlichen Epoche zu gewinnen; ich breche hier
ab. Die Resultate einer derartigen Methodik sind so,
daß sie, nun literaturgeschichtlich-sachlich
gesehen, die Verflechtung einer Gelehrtenschicht
abzubilden vermögen, die sich als dichtes
Netz über ganz Europa legte - es wäre, in der
natürlich nicht völlig passenden Sprache der
modernen Kommunikationstechnologie, zwar nicht ein WWW,
aber ein EWW - ein 'Europe Wide Web' der damals bekannten
gelehrten Welt. Deren Bedeutung für das Entstehen und
das Profil einer in die Zukunft weisenden
Literaturkultur kann kaum überschätzt werden. Dies
sei im folgenden mit Harsdörffer gezeigt, auch wenn es wegen
einer noch immer ausstehenden modernen Biographie des
Autors nicht ganz leicht fällt.
*
Georg Philipp Harsdörffer, am
1. November 1607 als Sohn eines in achter Generation in
Nürnberg ansässigen Patriziers und der aus altem
Nürnberger Patriziergeschlecht stammenden Lucretia
Scheurl von Defersdorf geboren, kam nicht nur in den Genuß
einer standesgemäßen Erziehung, sondern auch eines
ausgezeichneten Privatunterrichts, bevor er - am 20. März
1623 als "Georg. Philip. Harsdörffer, Patric. Noric." noch
nicht 16-jährig in die Altdorfer Matrikel eingeschrieben -
an der Heimatuniversität Jurisprudenz studierte.
Selbstverständlich gingen dieser, wie wir heute sagen
würden, fachspezifischen und berufsorientierten
Ausbildung in der höheren Fakultät die "studia
humanitatis" voraus, also jener Unterricht in den
"humanistischen Fächern" Grammatik, Rhetorik, Poesie,
Geschichte und Moralphilosophie, die in leicht abgewandelter
Weise Harsdörffers ehemaliger Privatlehrer Philippus
Carolus nun als Dozent in Altdorf lehrte.4 Ich komme auf diesen
Aspekt noch zurück, dass das humanistische Lehrangebot
für die lateinisch basierte Literaturkultur im allgemeinen
und die literarische Produktion unseres Autors im besonderen
von grundlegender Bedeutung und prägender Kraft war.
Und eine eigene, aber keineswegs ungewöhnliche Note
gewann dieses Studium zudem durch den Besuch von
Mathematikveranstaltungen des Orientalisten und
Mathematikers Daniel Schwenter. Sie erfuhr nachhaltige
Unterstreichung, als Harsdörffer 1626 - der Beginn seiner
"peregrinatio academica" - nach Straßburg wechselte,
dessen Akademie wenige Jahre zuvor zur Universität
erhoben worden war,5
und insbesondere bei Matthias Bernegger
(1582-1640) sein Studium fortsetzte.6
Bernegger nämlich, der hier
seit 1613 bis zu seinem Tode als Professor der Geschichte und
zeitweise auch der Rhetorik amtierte, trat für die
Fortschritte der Naturwissenschaften ein und übersetzte im
Zusammenhang mit mathematischen und astronomischen Studien
beispielsweise Galileis Traktat über den
Proportionalzirkel. Freilich, Harsdörffers Entscheidung
für die "alma mater" der evangelischen freien Reichsstadt
dürfte, über den konfessionellen Gesichtspunkt hinaus,
vor allem durch den Ruf motiviert gewesen sein, den sie in kurzer
Zeit in vielfältiger Hinsicht genoß und an dem
Bernegger nicht unwesentlichen Anteil hatte: beispielsweise
in Fragen der Reichsstaatsrechtslehre und der
politikwissenschaftlichen Diskussion der "Politik" des
Justus Lipsius (und nicht mehr vorrangig des Aristoteles); ferner
in Fragen der Vermittlung "praktischen Regierungs- und
Verwaltungswissens", das "für künftige Räte
und Beamte in Territorien und Reichsstädten
geeignet" war. Und dann war da noch die persönliche
Faszination; galt Bernegger doch als einer der "Mentoren der
aufblühenden deutschen Dichtung" in engem Kontakt
beispielsweise mit den Heidelberger Gelehrten und "poetae
docti" um Georg Michael Lingelsheim und Julius Wilhelm Zincgref,
war er zugleich akademischer Lehrer zahlreicher Autoren mit
Namen, unter ihnen Moscherosch und Jesaias Rompler von
Löwenhalt; darüber hinaus wurde ihm - Briefwechsel mit
Kepler und Hugo Grotius etwa belegen es - hohes Ansehen in der
internationalen "respublica litteraria" zuteil.7 In diesem durch
Anregungen unterschiedlichster Herkunft geprägten
Ambiente also hielt sich Harsdörffer auf, von hier aus
auch setzte er 1627 seine "peregrinatio academica"
fort, im übrigen nicht ohne Empfehlungsschreiben, die er von
Straßburg auf die Reise mitnehmen konnte.
Über die
"peregrinatio"8 sind wir,
wenn auch karg, durch die zum Teil mit Hinweisen zur eigenen Vita
durchsetzte Lob- und Gedächtnisschrift Harsdörffers von
1639 auf seinen Studiengefährten Christoph Fürer von
Haimendorf informiert.9
Die Reiseroute führte von
Straßburg über Genf nach Frankreich mit
Unterbrechung und längerem Aufenthalt im Paris der
beginnenden Herrschaft Richelieus; von dort ging es weiter nach
den Niederlanden und England; dann wurde von Dover nach
Calais übergesetzt und Frankreich rasch durchquert, um nach
Italien zu gelangen; über Turin, Genua und entlang dem Lauf
des Po ging es, immer durch Kriegsgebiete, nach Venedig; von hier
aus wurden die Universitäten von Padua und Bologna
angestrebt; weitere Ziele der Bildungsreise waren Loretto,
Perugia und Rom; ihre südlichsten Punkte bildeten Neapel und
Puteoli; der Weg in die Toskana mit Immatrikulation an der
Universität zu Siena am 3. Mai 163010 und mit längerem
Aufenthalt in Florenz schloß sich an; auf der
Rückreise wurde Pisa angefahren, schiffte man sich in
Livorno ein, betrat zum dritten Mal französischen Boden,
durchreiste den Süden, fuhr entlang der
Westküste über Toulouse und Orleans nach Paris,
von dort über die Dauphiné und Genf durch die Schweiz
und Schwaben zurück in die heimische "patria" -: Nun, es ist
eine fünfjährige "peregrinatio", die, in
ihrem Umfang und in ihrer Weitläufigkeit durchaus
zeitüblich, durch das süd- und westliche Europa der
Gelehrtenkultur führte.11
Will man es nicht bei diesen kahlen
Bemerkungen belassen, sind weitere Quellen und Hilfsmittel
historischer Rekonstruktion zu bemühen. Leider
läßt uns dazu die spezielle Überlieferungslage im
Stich: Harsdörffers in die Tausende gehendes
Briefcorpus, Stammbuch, (womöglich) Reisetagebuch,
Gelegenheitsgedichte des Abschieds und des Geleits, also
sog. Apopemptica und Propemptica, sein Nachlaß und seine
Bibliothek müssen als verloren gelten - daher auch
bislang nicht der Versuch einer modernen Biographie, der
"Verflechtungsanalysen"12
auf literarhistorisch-empirischer Basis zugrunde
zu liegen hätten. Um gleichwohl eine gewisse Anschaulichkeit
geben zu können, deute ich die soziokulturelle und
bildungsgeschichtliche Verflechtung mit einem gewiß
naheliegenden Beispiel etwas an.
Der Vater unseres Autors, Philipp
Harsdörffer von Fischbach (1577-1631) - vielseitig gebildet
und dabei auch der lateinischen und zudem wohl griechischen
sowie der französischen, italienischen und spanischen
Sprache kundig13
- war noch nicht ganz dreizehnjährig in
Altdorf eingeschrieben (am 27.9.1590), besuchte 1592 das
Marburger Paedagogium, trug sich - fast sechzehnjährig
- in die Matrikel der Universität Leiden ein (am 17.9.1593),
war am 20. April 1597 in Siena und 1601 in Bourges
immatrikuliert. Aus seinem Stammbuch haben sich acht
Einzelblätter mit acht Eintragungen aus der Zeit in Siena
(1597) und Florenz (1598) erhalten; davon sind vier den Alben
adeliger Stammbuchhalter zuzuordnen, eine Eintragung
galt einem Aachener Patrizier, eine weitere einem
kaiserlichen Sekretär in Linz sowie eine einem
späteren Landeshauptmann in Steiermark14 - mit anderen Worten
(und ohne Sie weiter zu ermüden): die Bildungsreise des
Vaters, in diesem Falle mit einer Dauer von rd. 8 Jahren, bewegte
sich entlang den Fäden eines über die west- und
südeuropäischen Länder geknüpften Netzes mit
den Universitäten und
wissenschaftlich-pädagogischen Akademien als
Knotenpunkten und mit den Intellektuellenzirkeln und
Elitegruppen als Leistungsträgern so gut wie
Nutznießern des im Laufe des europäischen
Humanismus sich immer enger verwebenden 'web'.
Vor dem hier skizzierten Hintergrund
gewinnen die vergleichsweise wenigen Briefe von und
an G. Ph. Harsdörffer, die sich erhalten haben, einen
eigenen Signifikanzwert: Es sind Briefe in Latein von ihm an
Herzog August von Braunschweig-Lüneburg 1644 und 1646
ebenso wie an die großen Gelehrten der Zeit Justus Georg
Schottel und Johann Valentin Andreae zwischen 1647 und 1653,
ferner von ihm in Französisch an Herzogin Sophie Elisabeth
von Braunschweig-Lüneburg von 1644; hinzu kommen sodann die
an Harsdörffer gerichteten Briefe in Italienisch von
dem Dichter Giovan Francesco Loredano,15 dem er in Venedig
begegnet sein dürfte, und in Französisch vom
'deutschen' Autor Moscherosch am 18. August 1645 aus
Paris.16 Kurzum: solche Zeugnisse geben schon zu erkennen, daß
G. Ph. Harsdörffer wie sein Vater
sprachlich-kulturell und gesellschaftlich der
Gelehrtenschicht als europäischer
"Standeskultur"17
angehörte.
Die Skizzen der Studienzeit
Harsdörffers, die mit seiner Rückkehr nach
Nürnberg abgeschlossen ist, sind natürlich über
ihn als Einzelfall hinaus in universitäts- und
bildungsgeschichtlicher Hinsicht exemplarisch. Indes: für
die Phänomene des Literarischen im engeren Sinne und
für die genuin literarischen Aspekte des
Harsdörfferschen Schaffens drängt sich rasch die Frage
nach ihrer Relevanz auf. Und zwar nicht zuletzt deswegen, weil
das Œuvre, das Harsdörffers hohes Ansehen, ja
Ruhm unter seinen schreibenden Zeitgenossen begründet
hat, gerade solche Werktitel umschließt, die aus heutiger
Sicht reichlich kurios, um nicht zu sagen 'barock' in des Wortes
krausester Etymologie und Bedeutung anmuten; ich
führe einige Titel in der Reihenfolge des Erscheinens ihrer
Werke an: beispielsweise "Frauenzimmer Gesprächspiele",
"Pegnesisches Schäfergedicht / in den Berinorgischen
Gefilden / angestimmet", "Poetischer Trichter", "Prob und Lob der
teutschen Wohlredenheit", "Der grosse Schauplatz
jämmerlicher Mordgeschichte", "Der grosse Schauplatz
lust- und lehrreicher Geschichte", "Delitiae mathematicae et
physicae [oder] Mathematische und philosophische
Erquickstunden", "Heraclitus und Democritus. Das ist
fröhliche und traurige Geschichte", "Ars apophthegmatica.
Das ist: Kunstquellen denckwürdiger Lehrsprüche
und ergötzlicher Hofreden" oder auch ein Titel wie "Der
teutsche Secretarius".18
*
Was
hat es mit einem derart offerierten Werk auf sich? Wie kommt es
zu diesen Auffälligkeiten, ja Merkwürdigkeiten? Gehen
sie auf eigene Traditionen zurück? Leben heimische
Überlieferungen in ihnen fort? Fragen solcher Art richten
sich zunächst einmal nicht auf literaturexterne, sondern auf
innerliterarische Kontexte - auf Stoffe, Themen, Stile,
Gattungen also und folglich auf Text-Text-Relationen ebenso
wie auf Autorbeziehungen. Damit aber kommt unabweisbar der
wirkungsmächtigste Repräsentant der deutschen
Literatur im Nürnberg des 16. und frühen 17.
Jahrhunderts ins Spiel: Hans Sachs (1491-1576). Als der Autor neun Jahre vor seinem Tod
1567 in der autobiographischen "Summa all meiner gedicht" sein
literarisches Testament formulierte und dabei 53 Jahre
dichterischen Schaffens in den Blick nahm, verzeichnete er
"nicht weniger als 4275 Meistergesänge in 275
verschiedenen Meistertönen, von denen er 13 selbst
komponiert hatte, ferner 208 Komödien, Tragödien und
Fasnachtspiele, rund 1700 geistliche und weltliche
Gespräche und Spruchgedichte, Fabeln, Schwänke und
Possen, 7 Prosadialoge und 73 Psalmen und andere
Kirchengesänge, geistliche Lieder, Gassenhauer, Buhl- und
Kriegslieder".19
Es ist ohne Zweifel ein nach Zahl und Art
erdrückendes Œuvre, das zudem in ungemessenen
Nachbildungen und Plagiaten nachwirkte. Ausgebildet in
den "Gattungstraditionen der Handwerkerdichtung" (E. Kartschoke),
prägte es Gestus und Ton des literarischen Austausches im
geschlossenen Kreis der Singschule so gut wie in den breiteren
Schichten der patrizisch dominierten Stadtgesellschaft
Nürnbergs. Der durchgehende Grundzug des Werkes ist von dem
Anliegen bestimmt, "die Angehörigen der städtischen
Mittel- und Unterschicht auf je verschiedene Weise […] in
großem Umfang mit religiöser und weltlicher Bildung
vertraut zu machen".20
Freilich blieb diese entschiedene Ambition
moralischer Bewertung und didaktischer Nutzung des
Dargestellten nicht ohne Folgen für den inneren Zustand
der literarischen Hervorbringungen. Es ist - mit einem
Terminus technicus des Russischen Formalismus -
"Automatisierung", die Kenner der Sachs-Dichtung kritisch wie
folgt beschrieben haben: "Für ihr späteres
Niveau sprechen Bezeichnungen wie
'Gestreiftsafranblümleinweis', 'Cliusposaunenweis',
'geblümte Paradiesweis' oder 'Fettdachsweis'".21 Das Serielle der
Produktion, die ausschließliche Verpflichtung der
Künste aufs Moralische, der "prononciert protestantische
Charakter" der Werke (Hofmann) führten unabwendbar eine
Kalzinierung des literarischen 'Kunstgewerbes' und ein
Leerlaufen des literarischen Lebens herbei. Dazu ein
Beispiel - und zwar aus dem Epilog der "Tragedj" "Der
hürnen Sewfrid" von Sachs aus dem Jahre 1557:
Erstlich zaigt künig Sigmund
nun:
Eltern, so ein vnghraten
sun
Haben, den ist gar we vnd
pang,
Fürchten mit im posen
ausgang.
Zumb andren deut Sewfrid die
juegent
On zuecht gueter siten vnd
tuegent,
Verwegen, frech vnd
vnferzaget,
Die sich in all gferlikeit
waget.
[…]
Zumb achten Crimhilt, das schön
weib,
Dewt ein weib, das der fürwitz
treib
Zw manchem hochmütigen
stüeck;
Der kumbt vil vnraz auf den
rüeck.
Zum neunten dewtn ir prüder
das:
Ein düecksch gselschaft vol
neid vnd has,
Die anrichtet vil
vngemachs.
Vor der phüet vns got,
wünscht Hans Sachs.22
An solche Art Textbildung,
Literaturauffassung und Kunstwille konnte, so scheint es, das
Projekt der Erneuerung der deutschen Sprache, Literatur
und Künste im Barock schwerlich
anschließen.
Kommen wir deswegen noch einmal auf
einige Werktitel aus Harsdörffers Œuvre
zurück, um Antworten auf die zuvor angedeuteten Fragen
anders zu versuchen.
Das literarische Hauptwerk, das
Harsdörffer 1641 zunächst in zwei Teilen erscheinen und
dann in rascher Folge zwischen 1643 und 1649 in acht
querformatigen Oktavbändchen herauskommen
ließ, hat folgenden Titel:
|
Frauenzimmer
Gesprechspiele / so bey Ehr- und Tugendliebenden
Gesellschaften / mit nutzlicher Ergetzlichkeit /
beliebet und geübet werden mögen / Erster Theil. Aus
Jtaliänischen / Frantzösischen und Spanischen
Scribenten angewiesen / […] Durch Einen Mitgenossen
[…] Jm Jahre 1644. |
An diesem Titel interessiert uns hier
insbesondere die Formulierung über die Provenienz der
Gegenstände und Formen der "Gesprächspiele". Eine lange
hinsichtlich des Gedankens der Tradition im Grunde
ahnungslose Germanistik hat die Herkunftsbehauptung 'aus
italienischen, französischen und spanischen
Scribenten' für eine buchmarktschreierische Anpreisung im
wörtlichsten Sinne gehalten und auch die Autoren- und
Werkverzeichnisse im zweiten und vierten Band der
„Gesprächspiele“23
mit mehr als 500 Titeln partout nicht für
bare Münze nehmen wollen.
Anmerkungen
1 Vgl. Paas, "der Franken Rom", 1995. (Die
abgekürzt wiedergegebenen Titel finden sich vollständig
im Literaturverzeichnis.)
2
Der erste und bisher einzige Band der Ausgabe ist 1988
erschienen: Sigmund von Birken, Werke und Korrespondenz, hrsg. v.
Klaus Garber, Ferdinand van Ingen, Dietrich Jöns u. Hartmut
Laufhütte, Bd. 14: Prosapia/Biographia, hrsg. v. D.
Jöns u. H. Laufhütte, Tübingen 1988 (Neudrucke
deutscher Literaturwerke N.F.: Bd. 41).
3
Markus Paul, Reichsstadt und Schauspiel. Theatrale Kunst im
Nürnberg des 17. Jahrhunderts, Tübingen (Max Niemeyer
Verlag) 2002 (= Reihe „Frühe Neuzeit“: Bd. 69;
Diss. masch. Erlangen 2000).
4
Vgl. zuletzt Dieter Mertens, Deutscher Renaissance-Humanismus,
in: Humanismus in Europa, hrsg. von der Stiftung "Humanismus
heute" des Landes Baden-Württemberg, Heidelberg 1998, S.
187-210. - Zu Harsdörffer s. Bischoff, Harsdörffer,
1894, S. 7; Narciss, Studien, 1928, S. 2f.; Böttcher,
Harsdörffer, 1984, S. 296f.
5
Zu den am Anfang des 17. Jahrhunderts gestifteten
protestantischen, aus Gymnasien hervorgegangenen
Universitäten Gießen (1607), Rinteln (1621),
Straßburg (1621) und Altdorf (1622) vgl. Friedrich Paulsen,
Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen
und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur
Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen
Unterricht, 2 Bde., 3., erw. Aufl., Leipzig 1919 u.
Berlin/Leipzig 1921, hier Bd. 1, S. 254 u. S.
255ff.
6
Das Immatrikulationsdatum Harsdörffers (10.07.1626) und das
seines Studiengefährten Christoph Fürer von Haimendorf
(10.07.1626) nach Gustav C. Knod (Hrsg.), Die alten Matrikeln der
Universität Straßburg 1621 bis 1793, 3 Bde.,
Straßburg 1897-1902, Bd. 2, S. 214: Matricula Studiosorum
Juris. Beider Namen scheinen mit Straßburger Einträgen
im Stammbuch des stud. jur. Jacob Schnerrer (geb. in
Nürnberg, imm. am 07.08.1626 in Straßburg) auf:
Harsdörffer als 61. Einträger mit Datum vom 5.11.1626,
Fürer als 62. mit Datum vom 6.11.1626; vgl. Werner Wilhelm
Schnabel (Hrsg.), Die Stammbücher und Stammbuchfragmente der
Stadtbibliothek Nürnberg, 3 Teile, Wiesbaden 1995, hier Teil
1: Die Stammbücher des 16. und 17. Jahrhunderts, S.
179f.: Kat.Nr. 59/61 u. 59/62.
7
Vgl. zuletzt Wilhelm Kühlmann, Art. "Bernegger, Matthias",
in: Walther Killy (Hrsg.), Literatur Lexikon. Autoren und
Werke deutscher Sprache, Bd. 1, Gütersloh/München 1988,
S. 450f. (mit weiterführenden Literaturhinweisen). Zu
Straßburg und Bernegger bes. Anton Schindling,
Humanistische Hochschule und freie Reichsstadt. Gymnasium und
Akademie in Straßburg 1538-1621, Wiesbaden 1977 (=
Veröffentlichungen des Instituts für
europäische Geschichte Mainz: Bd. 77), bes. S. 279-289 u. S.
377-384, Zitat S. 384.
8
Es ist anzunehmen, dass M. Berneggers "Discursus
historico-politicus de peregrinatione studiosorum" von 1619
Harsdörffers Vademecum war.
9
Harsdörffer, Memoria Viri prosapia, Virtute atque eruditione
Nobilissimi Christophori Füreri ab Haymendorf et
Wolckersdorf, Nürnberg 1639, S. 11f. (Exemplar SuUB
Göttingen: 8 HLBI I,800:1,11). Harsdörffer
heiratete im übrigen am 9. Juni 1634 Susanna Fürer von
Haimendorf, "die Tochter des alten Geschlechters und
Senators Johann Sigmund Fürers von Haimendorf" (Narciss,
Studien, 1928, S. 12): zum gebildeten und
gesellschaftlich-ständischen Konnex kommt also nicht selten
der verwandtschaftliche hinzu.
10 Die Angabe nach: Fritz Weigle (Hrsg.),
Die Matrikel der deutschen Nation in Siena (1573-1738), Bd. 1,
Tübingen 1962, S. 256: Nr. 6345; zuvor am 2. Mai 1630 hat
sich C. Fürer als Nr. 6344 eingeschrieben: Christophorus
Furer Noribergensis.
11 Vgl. Bischoff, Harsdörffer, 1894,
S. 15-19.
12 Zum Begriff und zum Instrumentarium der
"Verflechtungsanalyse" als Verfahren der "Rekonstruktion
bürgerlicher und adeliger Elitekreise" der frühen
Neuzeit vgl. Heinz Schilling, Nation und Konfession in der
frühneuzeitlichen Geschichte Europas, in: Klaus Garber
(Hrsg.), Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit.
Akten des I. Internationalen Osnabrücker Kongresses zur
Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, Tübingen 1989 (=
Frühe Neuzeit: Bd. 1), S. 87-107, hier S.
102-107.
13 Vgl. Bischoff, Harsdörffer, 1894,
S. 6f.
14 Vgl. Schnabel, Stammbücher, Teil 1,
S. 108: Kat.Nr. 39/1-8.
15 Vgl. Narciss, Studien, 1928, S. 178-188.
Außer Betracht bleiben hier die 'sprach- und
literaturpolitischen' Briefe Harsdörffers u.a. an das erste
Oberhaupt der "Fruchtbringenden Gesellschaft", Fürst Ludwig
zu Anhalt, in: Gottlieb Krause, Der Fruchtbringenden Gesellschaft
ältester Ertzschrein. Briefe, Devisen und anderweitige
Schriftstücke. Urkundlicher Beitrag zur Geschichte der
deutschen Sprachgesellschaften im 17. Jahrhundert, Hildesheim/New
York 1973 (Reprogr. Nachdruck der Ausg. Leipzig 1855), S.
307-401.
16 Vgl. Wilhelm Kühlmann u. Walter
Ernst Schäfer, Frühbarocke Stadtkultur am Oberrhein.
Studien zum literarischen Werdegang J.M. Moscheroschs
(1601-1669), Berlin 1983, S. 118-122.
17 „Standeskultur“ verwende ich
hier im Sinne der großen Studie von Erich Trunz, Der
deutsche Späthumanismus um 1600 als Standeskultur, in:
Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts
21, 1931, S. 17-53; häufiger Wiederabdruck, zuletzt in:
Erich Trunz, Deutsche Literatur zwischen Späthumanismus und
Barock. Acht Studien, München 1995, S.
7-60.
18 Vgl. Dünnhaupt,
Personalbibliographien, 1991, S. 1969-2031; die Titel sind
behutsam an die heutigen Schreibgewohnheiten
angeglichen.
19 Vgl. die Porträts von Horst
Brunner, Hans Sachs, in: Wolfgang Buhl (Hrsg.), Fränkische
Klassiker. Eine Literaturgeschichte in Einzeldarstellungen,
Nürnberg 1971, S. 264-278 und Erika Kartschoke, Hans Sachs,
in: Gunter E. Grimm/Frank Rainer Max (Hrsg.), Deutsche Dichter.
Leben und Werk deutschsprachiger Autoren, Bd. 2: Reformation,
Renaissance und Barock, Stuttgart 1988 (= Reclams
Universal-Bibliothek: Nr. 8612), S. 63-77. Siehe dazu auch
Joachim G. Boeckh u.a., Geschichte der deutschen Literatur. Von
1480 bis 1600, Berlin (Ost) 1960 (= Geschichte der deutschen
Literatur: Bd. 4), S. 431-448, hier S. 434f.
20 Vgl. Horst Brunner, Hans Sachs -
Über die Schwierigkeiten literarischen Schaffens in der
Reichsstadt Nürnberg, in: ders./Gerhard Hirschmann/Fritz
Schnelbögl (Hrsg.), Hans Sachs und Nürnberg.
Bedingungen und Probleme reichsstädtischer Literatur. Hans
Sachs zum 400. Todestag am 19. Januar 1976, Nürnberg 1976,
S. 1-13, hier S. 8f.
21 Hans Herbert Hofmann, Das Nürnberg
der Meistersinger, in: Buhl, Fränkische Klassiker, 1971, S.
246-263, hier S. 255.
22 Zit. nach Helmut Weinacht, Das Motiv vom
Hürnen Seyfrid im Nürnberg des 16. Jahrhunderts. Zum
Problem der bürgerlichen Rezeption heldenepischer Stoffe,
in: Brunner, Hans Sachs und Nürnberg, 1976, S. 137-181, hier
S. 139; s. ebd. auch die Interpretation der
Stelle.
23 Harsdörffer, Frauenzimmer
Gesprächspiele, 1968, Teil II, S. 467-492 und Teil IV, S.
703-716.
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Teil
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