Goethe Ede Ede Hauptverzeichnis



 
Theorie und Geschichte der Parodie / Teil IV

von Theodor Verweyen




Inhaltsverzeichnis:

I. Einführung und Begründung des Vorlesungsgegenstandes
II. Begriffsgeschichten und Begriff:
1. „Parodie”: Geschichte der Wortverwendung
II. Begriffsgeschichten und Begriff:
2. „Kontrafaktur”: Terminologische Erneuerung eines Begriffs der Literaturgeschichte
II. Begriffsgeschichten und Begriff:
3. Terminologische Entscheidungen zu „Parodie” und „Kontrafaktur”
II. Begriffsgeschichten und Begriff:
4. Parodie und Urheberrecht
III. Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer Zeit‘
III. Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer Zeit‘ / 1. Die pseudo-homerische „Batrachomyomachia” als Beispiel hellenistischer Epos-Parodie
III. Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer Zeit‘ / 2. Die Parodie im Mittelalter: am Beispiel parodistischer Verarbeitungen in Heinrich Wittenwilers „Der Ring”
III. Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer Zeit‘ / 3. „Die Dunkelmännerbriefe” („Epistolae obscurorum virorum”): ein Beispiel humanistischer Satire und Parodie
III. Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer Zeit‘ / 4. Parodie und Travestie im barocken Roman: Grimmelshausens „Simplicissimus Teutsch”
IV. Geschichte der neueren deutschen Parodie
IV. Geschichte der neueren deutschen Parodie:
1. Friedrich Nicolai: „Eyn feyner kleyner Almanach” - Parodie aus dem Geist der Aufklärung
IV. Geschichte der neueren deutschen Parodie:
2. Die Parodie als Klassik-kritisches Mittel: am Beispiel einer Schiller-Parodie A.W. Schlegels aus der Zeit um 1800
IV. Geschichte der neueren deutschen Parodie:
3. Parodistische Literaturkritik im 19. und 20. Jahrhundert: von Ludwig Eichrodt bis Eckhard Henscheid
Literaturhinweise

Verweis Lenore fuhr ums Morgenrot
Die Parodie-Sammlung der Erlanger Liste.
 
 

1. Friedrich Nicolai: „Eyn feyner kleyner Almanach” – Parodie aus dem Geist der Aufklärung

a) Vorbemerkungen

Über den 1733 in Berlin geborenen und dort 1811 gestorbenen, mit Lessing beispielsweise oder auch mit Moses Mendelssohn befreundeten Nicolai zu sprechen, würde erfordern, zunächst über das Verhältnis der deutschen Literaturgeschichtsschreibung zur Idee und Geschichte der Aufklärung zu sprechen. Das kann hier natürlich nicht geschehen. Lediglich hingewiesen sei darauf, daß dieses Verhältnis ein teilweise äußerst spannungsvolles war und ein solches bis heute geblieben ist. Die deutsche Literaturgeschichtsschreibung hat sich über viele und weite Zeiträume ihrer Wissenschaftsgeschichte hin allzu willig den Irrationalitätsbewegungen in der Geschichte der Literatur und des Geistes angeglichen und darüber Aufklärer wie Friedrich Nicolai vergessen, verdrängt und auch ‚denunziert’. Ich kann mich zu dieser keineswegs kühnen Behauptung des Urteils eines Historikers vergewissern, der seine germanistische Herkunft nicht leugnet (u. a. bei Albrecht Schöne und Walther Killy in Göttingen, bei Eberhard Lämmert und Wilhelm Emrich in Berlin studiert und folgerichtig kritisch den Blick auf die wissenschaftsgeschichtlichen Bedingtheiten der Germanistik gerichtet hat): Horst Möller. Der ließ in seiner Monographie von 1974 über „Aufklärung in Preußen” eigentlich zum ersten Mal dem Aufklärer Friedrich Nicolai umfassend Gerechtigkeit widerfahren. Selbst Möller sah sich für seine Unternehmung noch zu der folgenden Bemerkung genötigt: „Historiker haben Nicolai überhaupt nur viermal zum […] Gegenstand ihrer Forschung gemacht”. Demgegenüber seien die germanistischen Arbeiten über ihn zahlreicher, aber sie „leiden […] zum größten Teil” unter den mit den veralteten historischen Arbeiten vergleichbaren methodischen Mängeln und

„waren bis ins 20. Jahrhundert dadurch charakterisiert, daß sie mehr oder weniger unkritisch die einseitige Verurteilung übernahmen, welche die Aufklärung im allgemeinen und Nicolai insbesondere durch führende Vertreter der sie ablösenden philosophischen und literarischen Strömungen erfuhr [sc. gemeint sind u. a. Goethe, Schiller, Herder sowie die Romantiker]. Über dieses Klischee des Nicolai-Bildes gingen nur wenige Studien mit eingeschränktem Themenkreis hinaus.”1

Historische und literarhistorische Aufklärungsforschung nun, die sich von jenem insbesondere literarisch und ästhetisch bestimmten Klischee des Nicolai-Bildes freigemacht hat, muß sich dann in der von H. Möller demonstrierten umfänglichen Weise auf den Schriftsteller Nicolai „als Kritiker seiner Zeit” ebenso wie auf den „Verleger und Herausgeber der Aufklärung” einlassen; sie muß das wechselseitige Bedingungsverhältnis zwischen Öffentlichkeitsforderung und Arkanpraxis sehen, an dem dem Aufklärer Nicolai als Mitglied der „Mittwochsgesellschaft” und des „Montagsclubs” in Berlin wie allen Mitgliedern dieser aufgeklärten Gesellschaften und Vereinigungen gelegen war – ja gelegen sein mußte, um über „gemeinnützige” Themen „vernünftig” zu reden und zur Verbreitung vorzubereiten; sie muß die soziale Dimension in der Zeitkritik Nicolais ebenso wie ihre politische Dimension sehen und sie muß schließlich auch die historiographische Leistung Nicolais einbeziehen, die nicht zuletzt aus der sich abzeichnenden Kontroverse zwischen Geschichtsforschung (Nicolai) und Geschichtsphilosophie (Kant) erwuchs. Angesichts dieser Vielfalt von Interessen, Faktoren und Aspekten ist es naheliegend, die komisch-kritische Auseinandersetzung Nicolais mit der zeitgenössischen Literatur in die richtigen Proportionen zu stellen und nicht durch einseitige Hervorhebungen und Betonungen zu überfordern.

b) Nicolais komische Literaturkritik und ‚gattungsgeschichtliche’ Probleme

Über Friedrich Nicolai als Parodisten zu sprechen, macht erneut nötig, vorab auf einige Probleme speziellerer Art zumindest andeutungsweise einzugehen. Nicolais „feyner kleyner Almanach” steht in einer von 1773 bis 1799 sich erstreckenden Reihe komisch-kritischer Literaturfehden, die samt und sonders anonym publiziert sind, deren Authentizität aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen wurde; es sind dies:

  • 1773-1776: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker (Berlin/Stettin): siehe die Neuausgabe von Bernd Witte (Stuttgart 1991); darin heißt es – eben – noch 1991, S. 604: „Friedrich Nicolais Roman … seiner Zeit”.2
  • 1775: Freuden des jungen Werthers. Leiden und Freuden Werthers des Mannes. Voran und zuletzt ein Gespräch. Wie auch Berichtigung der Geschichte des jungen Werthers (Berlin).
  • 1777-1778: Eyn feyner kleyner Almanach […] (Berlin).
  • 1794: Geschichte eines dicken Mannes, worin drey Heurathen und drey Körbe, nebst viel Liebe (Berlin/Stettin).
  • 1798: Leben und Meinungen Sempronius Gundibert’s, eines deutschen Philosophen (Berlin/Stettin).
  • 1799: Vertraute Briefe von Adelheid B** an ihre Freundin Julie S** (Berlin/Stettin).


Die spezielleren Probleme, auf die kurz einzugehen ist, sind gattungsterminologischer Art. Soweit ich nämlich die Forschung dazu zu überblicken in der Lage war, ist seit den frühen Arbeiten über Nicolais Schriften schon aus dem 19. Jahrhundert eine bemerkenswerte Unentschiedenheit hinsichtlich ihrer generischen Zuordnung deutlich: ‚Spottschrift’, ‚polemische Schrift’, ‚Parodie’, ‚Satire’, ‚Travestie’, ‚Karikatur’ bilden nur einen Teil der Gattungsappellative, die hier Anwendung finden. Am auffälligsten konkurriert dabei in neuerer Zeit ‚Satire’ (wie bei Peter Mollenhauer) mit ‚Parodie’ (wie etwa bei Horst Möller, der aber von Text zu Text spezifischer zu differenzieren sucht und daher im gegebenen Fall auch von ‚Satire’ spricht). Diese terminologische Unentschiedenheit ist zunächst einmal begriffs- bzw. genauer wortverwendungsgeschichtlich bedingt (ich erinnere an die Einführungen zu dieser Vorlesung). Hinzu kommt nun gewiß freilich auch der Sachverhalt, daß im 18. wie im ganzen 19. Jahrhundert ‚Satire’ als Dach- oder Basisbegriff gerade auch für die im Hinblick auf Nicolais literaturpolemische Schriften denkbaren Ausdrücke ‚Parodie’ und ‚Travestie’ fungierte. Ich bringe dazu kurz nochmals J.J. Eschenburgs schon zitierte Bestimmung der Parodie als eine „besondere Art der Satire” in Erinnerung und greife zudem auf Friedrich Theodor Vischers „Aesthetik” aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts vor. In dieser wird über Satire (zunächst) thesenartig formuliert:3

„Sie unterscheidet sich innerhalb ihres allgemein negativen Charakters in eine negative, indirekte und eine positive, direkte. [Hier sei schnell an Walther Brechts Bestimmung in bezug auf die „Dunkelmännerbriefe” erinnert.] Beide wenden komische Mittel an, die erstere aber erhebt sich je nach Geist und Stimmung in das Gebiet der rein ästhetischen Komik. Sie folgt in ihren bestimmteren Bildungen den Gebieten der reinen Poesie, liebt, wie die verwandte Richtung der Malerei, die Karikatur und erzeugt auf diesem Wege komische Gegenbilder der großen Hauptzweige (bei speziellerer Richtung auf die Form Parodie und Travestie). Die zweite Art der Satire ist prosaischer und versinkt in das Dürftige und Gemeine […].”

In der von den Eckpunkten Eschenburg und Vischer abgesteckten Tradition der ‚Satire’-Bestimmung und Zuordnung von ‚Parodie’ und ‚Travestie’ gibt es ein interessantes Moment – nicht unbedingt terminologisch und systematisch, aber im Hinblick auf den mimetischen Charakter jener Formen komischer Verarbeitung. Gemeint ist damit der noch immer starke, wenn nicht gar dominante Zug zu realitätsbezogener Darstellung selbst im Falle literarischer Bezugnahmen und Verfremdungen wie bei der „Werther”-Kritik Nicolais. Mit anderen Worten: Auch außerordentlich stark literaturvermittelte Formen der Kritik bleiben in dieser Zeit (der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts) noch immer im Dienst einer realitätsbezogenen Kritik. Dafür hat H. Möller eine recht brauchbare Formulierung gefunden:4

„In den erstgenannten Büchern [sc. beispielsweise im ‚Sebaldus Nothanker’] griff er [Nicolai] (...) Mächte der Tradition, ‚Geister von Gestern’, an, die noch in seiner Zeit wirkten. 1775 gewann mit der Parodie auf Goethes ‚Werther’ Nicolais Zeitkritik eine neue Dimension. Erstmals wandte er sich gegen diejenigen Tendenzen, die erst zu wirken begannen, also gegen die Zeitgeister von Morgen, die schon heute wirkten”.

Von dieser Überlegung aus stellt sich die Frage danach, wie der Versuch, den „Probierstein des Lächerlichen” an die ‚Volkslieder-Wut’ am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts zu legen, verlaufen ist.

c) „Eyn feyner kleyner Almanach”: das Textbeispiel

In der „Werther”-Travestie Friedrich Nicolais enthält der Teil „Leiden Werthers des Mannes” einen etwas allgemein gehaltenen Ausfall gegen die Schriften und Programme der Stürmer und Dränger. Von dem jungen Mann, mit welchem Lotte schön tut, heißt es dort:5

„’s war da ein junges Kerlchen, leicht und lüftig, hatt’ allerlei gelesen, schwätzte drob kreuz und quer, und plaudert’ viel neust’ aufgebrachtermaßen, vom ersten Wurfe, von Volksliedern, und von historischen Schauspielen, zwanzig Jährchen lang, jed’s in drei Minuten zusammengedruckt, wie ein klein Teufelchen im Pandämonium. Schimpft’ auch alleweil’ auf’n Batteux, Werther selbst konnt’s schier nicht besser.”

Mit dem ‚Schimpfen auf Batteux’, d. h. mit dem Schimpfen auf die französische Poetik einer rationalistisch ‚verengten’ Literaturauffassung, ist J.M.R. Lenz’ antirationalistische Polemik in der Poetik „Anmerkungen übers Theater” thematisiert; mit den Schauspielern von zwanzig Jährchen ist auf Goethes „Götz” und die Shakespeare-Schwärmerei angespielt; die Phrase „vom ersten Wurfe” ist dem Aufsatz Herders „Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker” entlehnt (den hatten die Blätter „Von deutscher Art und Kunst” im Jahre 1773 publiziert). Durch Herders Aufsatz angeregt, schrieb Gottfried August Bürger seinen Essay „Herzensausguß über Volkspoesie”, der im Mai 1776 erschien und der wiederum Nicolai zur Herausgabe des „feynen kleynen Almanachs” veranlaßte.6

Nach F.C.A. Philips’ Bemerkung, die ich hier zu Rate ziehe, gilt die Bezugnahme auf die Vorlage als unstrittig. Der Beweis dafür liegt offen zutage. Ich verweise etwa auf den vollständigen Titel des „Almanachs” Nicolais:

pic4 (40K)

Friedrich Nicolais Volkslieder-Almanach 1777-1778. Wiedergabe der Reichsdruckerei. Nachwort von Johannes Bolte, Weimar 1918 (Gesellschaft der Bibliophilen)

Dieser Titel soll an eine Schrift G. A. Bürgers zur „Sprache, Literatur, Poesie und Kunst” erinnern; deren zweiter Teil erschien unter dem Titel „Aus Daniel Wunderlichs Buch” im „Deutschen Museum” 1776, in welchem ebenso sehr ein Angriff gegen die Gelehrtendichtung der kritischen Rationalisten wie gegen die neue Poesie Klopstocks und seines Kreises formuliert war. Der Vorname des fingierten Sammlers alter Lieder, Daniel Wunderlich, sollte dabei im biblischen Sinne verstanden sein als Hinweis auf den Götzenzerstörer:

G.A. Bürger: Herzensausguß über Volks-Poesie, Sämtliche Werke, Teil 3, Leipzig o.J., S. 7ff.!

Nach diesen ausführlicheren Lesungen sei nochmals an den kontextgeschichtlichen Zusammenhang erinnert: Bürgers Postulate der Erneuerung der Poesie im Sinne einer ‚Popularisierung der Dichtung’ sind Teil des Streites um ‚Volkspoesie’ vs. ‚Kunstdichtung’. Sie gehen zurück auf die vermeintliche Wiederentdeckung alter Dichtungen aus dem irisch-schottischen Sagenkreis um Fingal und Ossian durch James Macpherson (1760-1763; vermehrte Fassung 1773), auf Thomas Percys originalgetreuere Wiedergabe altenglischer Balladen in den „Reliques of Ancient English Poetry” (1765) und eben auf Herders „Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker” von 1772. Wir befinden uns damit im Zentrum einer Literaturfehde, die zugleich einen tiefgreifenden Wandel der Kunst- und Literaturanschauungen mit herbeiführte (Stichwort: Sturm und Drang-Ästhetik).

Nicolai nun nimmt den von Bürger hingeworfenen Fehdehandschuh auf. Denn diesen Angriff der ‚Neuerer’ beantwortet er wie im Fall von Goethes „Werther”-Roman schnell und direkt, indem er die aus dem Geist des ‘Natur-Katechismus’ gepriesene Poesie der Probe des Lächerlichen aussetzte. Dabei ging es Nicolai nicht einmal primär um ein Verächtlichmachen der Volkspoesie selbst; sein Ziel war es vielmehr, zu zeigen, daß Volkslieder als Lieder des Volkes - und das war für ihn auch der Pöbel – nicht den Maßstab für Kunstpoesie abgeben konnten. Der verdiente Herausgeber des Almanachs, Georg Ellinger, hat die Probe zutreffend beschrieben, wobei er einige wichtige Mittel und Verfahren Nicolais wie folgt charakterisiert:7

Nicolai schöpfte aus beiden Kreisen der Überlieferung. Mit tendenziöser Absichtlichkeit stellte er unmittelbar neben Volkslieder des sechzehnten Jahrhunderts, deren Schönheit auch er empfand, die nach seiner Ansicht werthlosen Stücke der soeben behandelten Gattung von Volksliedern. Frivole romanzenartige Gedichte, lächerliche Kinderreime, wie das schweizerische Wiegenlied, die einem so klugen Mann wie Nicolai gewiß höchst albern erschienen, plump zweideutige Lieder, in denen Einzelheiten des Handwerks auf geschlechtliche Dinge ausgedeutet werden, sowie von Einfältigkeit, Dummheit und Rohheit zeugende Bauernlieder, – das war die Masse, die er zusammenbrachte (...).
Wie die Volkslieder ihrem Inhalte nach, so suchte Nicolai, auch die äußere Form, in der die älteren Lieder überliefert waren, lächerlich zu machen. Durch eine Karrikatur der Schrift des sechzehnten Jahrhunderts wollte er den Laien einen Begriff geben, wie die so gepriesenen Volkslieder in den Originaldrucken aussahen, daß sie in der äußeren Form ganz die gleiche Rohheit zeigten, wie die Mehrzahl im Inhalt. Die häßlichen und unsrem Auge störenden Consonantenverbindungen, wie sie in Drucken des sechzehnten Jahrhunderts hin und wieder angewandt werden, führte er in der ganzen Sammlung durch. Die Schreibung: vnndt, die allerdings unsrem Auge unangenehm ist, wird von den Druckern des sechzehnten Jahrhunderts neben: vnd, vndt, auch vnt gebraucht: Nicolai behält sie fast durchaus bei. Manche Schriftsteller des sechzehnten Jahrhunderts wenden für unser i den Vokal: y an, so z. B. Luther in der Septemberbibel. Nicolai führt es auch da durch, wo seine Vorlage i aufweist; er schreibt z. B. gyebt, sye, während die Bergkreyen: „giebt, sie” haben. - Ebenso gibt die Interpunktion ein Zerrbild der Interpunktion des sechzehnten Jahrhunderts; die in dem letzteren allerdings häufig wiederkehrenden Unregelmäßigkeiten und Schwankungen in der Interpunktion werden hier zum Gesetz erhoben und beständig durchgeführt.

Wie eine derartige Probe des Lächerlichen dann aussah, möge hier illustriert werden mit den folgenden Beispielen:

Friedrich Nicolai
Eyn Schlottfeger Lyd

’S Morgens wenn ich fru uffstee
Vnndt den Schorsteyn fegenn gee,
Klopf ich leyse ann die Tur,
Schone Jungkfraw kommpt herfur.

„He! he! he! wer klopfet ann,
„Der mich s’ leiß uffwecken kann?”
Ich stee hir ynn aller stil,
Der den Schorsteyn fegen wil.

„Wart’t eyn bißel junger G’sell,
„Dz ich brynge den Schlußel
„Vnndt euch sperr die Haußtur uff,
„Dz jr kommt tzu mir herauf.”

Jungfraw ich noch eyns beger,
Langt mitr Licht vnndt Besen her,
Nicht tzu groß vnnt nicht tzu kleyn,
Dz er geet zum Schorsteyn eyn.

„Junger G’selle horet ann,
„Wz ich euch wil sagen ann;
„Sey der Schorsteyn groß od’r kleyn,
„Seet selbst wi jr kommt hineyn.”

Auß dem Buben wird eyn Mann,
Der den Schorsteyn fegen kann.
Nimbt keyn Keerlon, fegt tzur frewd,
Alle Schorsteyn’ weyt vnndt breyt.

(Vgl. Verweyen/Witting, Walpurga, S. 79; s. auch: Lyrik-Parodien [Reclam], S. 25-28!)

Nicolais Probe des Lächerlichen ging auf. Wie sich Goethe über Nicolais „Werther”-Travestie erregte und mit deftigsten Anwürfen und Spottversen zu replizieren versuchte (ich habe sie zu Anfang der Vorlesung zitiert), so wenig gelassen reagierte auch Herder, dem der Nicolaische Angriff sehr viel mehr gegolten hat als G.A. Bürger. In seinem Aufsatz „Von Ähnlichkeit der mittleren englischen und deutschen Dichtkunst” nannte er Nicolais „Almanach” „eine Schüssel voll Schlamm”, die unlängst aufgetragen worden sei, „damit die Nation ja nicht zu etwas Besserm Lust bekomme”.8 Von nun an formierten sich die Repräsentanten der „literarischen Revolution” (Goethe) wider die Aufklärung und den ‚Ungeist’ Friedrich Nicolai. „Von nun an gehörte” er, um ein Resümee Horst Möllers zu zitieren, „zunehmend zur literarischen, später zur philosophischen ‚Reaktion’”.9 Die Probe des Lächerlichen fiel auf den Parodisten selber zurück – ob zu Recht oder nicht, entscheidet sich nicht zuletzt daran, wie man etwa mit Eckhardt Meyer-Krentler die Opposition Nicolai vs. Goethe bewertet.10

Zu dem soeben behandelten Aspekt ‚Nicolais komische Literaturkritik und ihre generischen Probleme’ möchte ich die folgenden Ergänzungen mit einer gewissen Nachhaltigkeit unterstreichen.

Zum einen: Die Nicolai-Forschung, soweit sie überhaupt existent ist, hat sich bislang kaum auf vernünftig entschiedene Gattungs-, Schreibweisen- und Verfahrensbegriffe einigen können. Dabei verdiente das komisierende Werk des Aufklärers wirklich genauere Differenzierungen in Bezug auf die verschiedenen ‚generischen’ Konzepte, die Nicolais Projekten zugrunde liegen.

Zum zweiten: Einen Versuch einer ‚gattungsgeschichtlichen’ Klärung habe ich zusammen mit Gunther Witting in Bezug auf seine Sammlung „Feyner kleyner Almanach” unternommen. Es handelt sich demnach um eine Parodien-Sammlung, also um eine Sammlung von Texten, die dominant von einer bestimmten komisierenden Schreibweise geprägt sind. Zudem bilden die Grundlage und Bezugsbasis dieser Parodien die sog. Volkslieder, die zur Zeit des Sturm und Drang ein erstes neues kultartiges Interesse erfahren (siehe Herders auslösende Wirkung für Deutschland).

Zum dritten: Über Nicolais komisierende Literaturkritik hinaus läßt sich fürs 18. Jahrhundert als Dominante feststellen, daß vor allem pathoshaltige Gattungen der Literatur wie die ‚hohe Ode’ (etwa Klopstocks) oder die Bibelepik (etwa Klopstocks „Messias”) oder das Epos (etwa Vergils immer noch wirksame „Aeneis”) oder – mit hohem Anspruch daherkommende – Prosagattungen wie der ‚empfindsame Roman’ (etwa Goethes „Werther”) bzw. ‚Physiognomische Betrachtungen’ (wie etwa Lavaters Werk) der literarisch inszenierten Kritik in Form der Parodie, Travstie usw. anheimfallen.

Nicht selten spielen dabei alle drei Aspekte ineinander, also die Aspekte der Begriffs- und Terminologisierungsgeschichte, der Gattungs-, Schreibweisen- und Textsortenfragen, der Rezeptionsgeschichte wie auch der Geschichte der parodistischen und travestierenden Kritikform selber.

d) Ausblick auf die Parodie und verwandte Schreibweisen zur Zeit der Aufklärung

Nicolais Angriffe auf den vor allem von Herder ausgelösten Volksliederkult sollten als ein Paradigma aufklärerischer Parodie aus der Mitte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etwas eingehender dargestellt werden. Immer sollte dabei freilich auch durch Querverweise deutlich werden, daß die Parodien „Eyn feyner kleyner Almanach” zwar als ein höchst gelungenes Beispiel komisch-kritischer Textverarbeitung der Aufklärung erscheinen, daß sie aber zugleich doch auch nur ein Element in einer von heftigsten Kontroversen durchsetzten Epoche der deutschen Literaturgeschichte sind. Schon der gelegentliche Hinweis auf Nicolais „Werther”-Travestie konnte das bestätigen, erst recht der Hinweis auf die im Moritatenton gehaltene „Werther”-Travestie von Heinrich Gottfried Bretschneider aus dem Jahre 1776, aus der ich schon zu Anfang der Vorlesung einige Strophen vorgelesen habe. Die ungemein zahlreichen Parodien und Travestien auf Goethes Briefroman sind ohnehin signifikante Belege einer durchgehenden Tendenz der Epoche, die in der Form der „Literaturfehde” einen charakteristischen Modus der poetischen und poetologischen Selbstverständigung gefunden hat. Ob man das nun, wie es heutzutage gerne geschieht, als „Streitkultur” adeln sollte, bleibe hier unerörtert. Mir scheint, daß mit dieser Bezeichnung mehr verdeckt als beschrieben wird.

Wie dem auch sei, nicht leicht auszumachen sind demgegenüber Anfangs- und Endpunkt der Literaturfehde als epochaler Kritikform der Literatur. Zieht man beispielsweise neuere Parodie-Anthologien zu Rate, eröffnen das epochengeschichtliche Kapitel ‚Aufklärung’ Autoren wie Abraham Gotthelf Kästner (1719-1800; Professor der Mathematik und Physik in Göttingen seit 1756): Dieser reagierte auf die zwischen 1740 und 1760 herrschende Mode der anakreontischen Dichtung in den frühen 50er Jahren mit einem Text, der zwar „Anakreontische Ode” betitelt, aber alles andere als eine solche ist. Obwohl unzweifelhaft wie eine anakreontische Ode gebaut, können wir den Text keinesfalls zur Textsorte ‚anakreontische Ode’ rechnen. In ihm ist die anakreontische Ode – erinnert sei an das Wort Bachtins in der „Ästhetik des Wortes”  – „Gegenstand der Abbildung”, „der Held der Parodie”; der Text gibt somit ein „Bild” der anakreontischen Ode und verhält sich als parodistischer Nachfolgetext zum Prätext der anakreontischen Ode wie ein Metatext. Das bestätigt der Hinweis Kästners auf die Entstehung des Textes an den Herausgeber der Zeitschrift „Das Neueste aus dem Reiche des Witzes” (vgl. Verweyen/Witting, Lyrik-Parodien [Reclam], S. 211):

„M.H. Haben Sie wohl jemals gehört, daß die Gabe anakreontisch zu dichten ansteckt, wie die Elektrizität oder wie die Pest? Ich habe in meinem Leben nicht anakreontisch gedichtet und nie geglaubt, daß ich einen Trieb oder Geschicklichkeit dazu haben würde. Letztens las ich über Tische in einer Zeitung eine allerliebste anakreontische Ode: Der Wunsch. Ich setze mich nach Tische hin und denke, es wäre doch besser, eine anakreontische Ode zu machen, als Mittagsruhe zu halten [...]”.

Und nun die Parodie selber, die Erwin Rotermund in seiner Anthologie der „Gegengesänge” von 1964 an die zweite Stelle der Aufklärungs-Abteilung gesetzt hat11 und den Verweyen/Witting in ihrer Sammlung der „Lyrik-Parodien” ebenfalls früh plazieren (S. 28f.):

Abraham Gotthelf Kästner
Anakreontische Ode

Ich kann kein Haller werden
Und in erhabnen Liedern
Von hoher Weisheit singen;
Ich kann nicht, muntres Scherzen
Mit Wissenschaft zu zieren,
Nach Hagedorns Exempel,
Viel lesen und viel denken;
Ich kann mit Schlegels Fleiße,
Mit Schlegels großem Geiste
Kein Trauerspiel erfinden;
Ich kann nicht Fabeln machen,
Wie Gellert zärtlich fühlen,
Wie Gellert edel denken;
Ich kann nicht, kühn wie Klopstock,
In prächt’gen neuen Tönen
Die Mädchen ernsten Tiefsinn,
Die Stutzer Andacht lehren.
VIEL MINDER WIE DIE ZYRCHER
PATRIARCHADEN SCHAFFEN;
Auch kann ich nicht wie Lessing
Von Tieren, Pflanzen, Steinen,
Von Türken und Gespenstern,
Selbst Weisen zum Ergötzen,
Sind sie nur keine Alten,
Sind sie nur keine Türken,
Sind sie nur keine Steine,
Anakreontisch scherzen.

Was Henker soll ich machen,
Daß ich ein Dichter werde?
Gedankenleere Prose,
In ungereimten Zeilen,
In Dreiquerfingerzeilen,
Von Mädchen und von Weine,
Von Weine und von Mädchen,
Von Trinken und von Küssen,
Von Küssen und von Trinken,
Und wieder Wein und Mädchen,
Und wieder Kuß und Trinken,
Und lauter Wein und Mädchen
Und lauter Kuß und Trinken,
Und nichts als Wein und Mädchen
Und nichts als Kuß und Trinken,
Und immer so gekindert,
Will ich halbschlafend schreiben.
Das heißen unsere Zeiten
Anakreontisch dichten.

Kästners sog. „Anakreontische Ode” fällt - auch nach textinternen Indizien – in die frühen 50er Jahre des Aufklärungsjahrhunderts. Zur selben Zeit sind etwa auch Gottscheds Parodie „Ode, zum Ruhme des N.N.” und Freiherr von Schönaichs Gegengesang „Ode an den Menschen” erschienen – beides Parodien auf die Odendichtung Klopstocks, des Erneuerers der deutschen Literatursprache. Sie folgte ja unmittelbar auf die ersten poetischen Hervorbringungen der Anakreontik. (Die erste Parodie ist dabei in der „Walpurga”, S. 66-69, der zweite Text in der Anthologie „Lyrik-Parodien”, S. 16ff., wiedergegeben.) Naheliegendes Resultat: Die Mitte des 18. Jahrhunderts scheint als Zäsur in der Geschichte der neueren deutschen Parodie auf.

Das unterstreichen Werke wie „Der Wurmsamen. Ein Heldengedicht” – eine 1751 erschienene Textklassenparodie des Gottsched-Schülers und Medizinprofessors Daniel Wilhelm Triller auf die Bibelepik, deren Höhepunkt Klopstocks „Der Messias” (1748ff.) bildet. (Den „ersten Gesang” der Trillerschen Parodie haben Verweyen/Witting in den „Lyrik-Parodien”, S. 11-16, abgedruckt.) Klopstock wiederum, dessen „Messias” nicht zuletzt von Bodmers Milton-Übersetzung angeregt war und daher bei der Zürcher Literatur-Fraktion um Bodmer und Breitinger hoch im Kurs stand, fand in ihr zunächst Verteidiger, zumal die Zürcher selbst sich – übrigens völlig richtig – mit attackiert sahen. Bodmer wurde so selber, obwohl er noch in seinen frühen theoretischen Arbeiten der 20er Jahre die Parodie als Kritikform abgelehnt hatte, zu einem ‚Parodisten’, der in viele Richtungen seine literaturkritischen Hiebe austeilte.12 Allerdings – und diese Einschränkung ist unbedingt nötig – operieren frühe Forschungsarbeiten wie die von mir soeben herangezogene Dissertation Erich Meissners von 1904 noch mit einem systematisch völlig ungeklärten (und das heißt u. a.: traditionell äquivoken) ‚Parodie’-Verständnis. Von hier aus ergibt sich auch schon eine nachhaltige Feststellung: Eine systematisch solide Erforschung der Schreibweisen, Formen und Verfahren indirekter Literaturkritik im Aufklärungsjahrhundert und insbesondere in der Zeit zwischen 1740 und 1790 ist ein dringendes Desiderat; und eine begriffsgeschichtlich sorgfältige Arbeit gehört unabdingbar dazu, wie gerade die Dissertation von E. Meissner erneut belegen kann.

Aber selbst jüngste Untersuchungen illustrieren das Erfordernis terminologisch abgeklärter Parodie-Forschung aufs schlagendste. Dafür ein Beispiel, das zugleich die Vielfalt ebenso wie die Traditionalität ‚literarischer Gegenüberstellungen’ zu zeigen vermag: Wolfgang Martens macht in einem Aufsatz von 1988 mit dem Titel „Frommer Widerspruch. Pietistische Parodien auf Oden der frühen Aufklärungszeit” auf eine vierbändige Sammlung von Versdichtungen mit der originalen Bezeichnung „Geistliche Gedichte” aufmerksam, die zwischen 1748 und 1752 in Halle, der „Hochburg des Pietismus”, erschienen ist. Der Theologe Sigmund Jacob Baumgarten, der ältere Bruder des „Ästhetik”-Begründers Alexander Gottlieb Baumgarten, hat sie mit einem Vorwort versehen. Die Sammlung enthalte, so Wolfgang Martens, 13

„geistliche Gedichte verschiedenster Art, - Preis- und Danklieder, Seelenlieder, Psalmenparaphrasen, gereimte Gebete, erbauliche Betrachtungen in Versen, Denksprüche, geistliche Epigramme, fromme Stammbuchverse, poetische Reflexionen zu Bibelstellen, gereimte ’zufällige Andachten’ in der Art Scrivers, versifizierte Wechselreden zwischen Jesus und der Seele, erbauliche Gelegenheitsgedichte zum Neuen Jahr, zum Geburtstag, zu Todesfällen, zur Hochzeit, zum Wohnungswechsel, fromme Wiegenlieder, allegorische Naturgedichte in der Art des Brockes und Ähnliches. Die Motivik der Jesusminne sowie die Lamm Gottes- und die Blut- und Wundenallegorik sind reichlich vertreten, sodaß eine Nähe zur Lyrik der Herrnhuter gegeben ist.”

Unter diesen geistlichen Versdichtungen finden sich nun auch, auf alle vier Sammlungen verteilt, insgesamt 77 solcher sog. ‚Parodien’:

„in Form von Umdichtungen zu von fremden Verfassern stammenden Bezugstexten. Diese Bezugstexte, deren Autoren zumeist genannt sind, – viele Namen gehören in den Umkreis Gottscheds, Gottsched selber ist vertreten, aber auch Ältere wie Canitz und Günther –, sind satztechnisch entweder der Parodie vorangestellt oder Bezugstext und Parodie stehen sich gegenüber: auf der linken Seite die Vorlage, auf der rechten die Parodie. Stets handelt es sich bei den Vorlagen um ’Oden’, – Oden im Sinne von zum Gesang bestimmten Gedichten. Diese Oden sind, wie die Vorrede zum 1. Band erläutert, einer vierteiligen, von Johann Friedrich Gräfe von 1736 bis 1738 herausgegebenen Sammlung entnommen, die den Titel trägt: Sammlung verschiedener und auserlesener Oden, zu welchen von den berühmtesten Meistern in der Music eigene Melodeyen verfertiget worden, und weil, so die Vorrede, jene vierteilige Sammlung ’noch leicht zu haben’ sei, habe man hier auf die Wiedergabe der Melodien verzichtet. Parodien wie Vorlagen waren also zum Gesang bestimmt oder doch geeignet. Jede Parodie ist, wie auch fast alle anderen geistlichen Gedichte, datiert. Die meisten der Parodien stammen aus dem Jahr 1747.
Schon die Bestimmung zum Gesang läßt etwas von der Eigenart dieser Parodien erkennen. Sie sind ernsthaft, – Umdichtungen weltlicher oder doch religiös oberflächlicher bzw. deistisch getönter Gedichte zu erbaulichem Zweck. Von Witz, Scherz, Tendenz zur Verspottung einer gegebenen Haltung und Gesinnung kann nicht die Rede sein. Das ridendo dicere verum der Parodie gilt hier nicht.”

Nach dieser einführenden Charakterisierung W. Martens’ kann man sich schon vorstellen, wie der Text-Text-Bezug aussieht, hier die jeweils 1. Strophe von Vorlage und Nachfolgetext:

MAYISCHE ODE PARODIE
Mein Vergnügen macht kein Lermen, Freuet sich die Welt mit Schwermen:
Ich genies es in der Stil. Labt mich JEsu Friedensstil.
Und warum solt ich mich härmen? Ich genies sie ohne Härmen;
Denn ich habe, was ich wil. In ihm hab ich, was ich wil.
Was ich nicht erlangen kan, Was man nur verlangen kan,
Geht mich auf der Welt nichts an. Trift man hier bey JEsu an.
Man könne, so nun W. Martens, weder von einer „lachenden” noch von einer „strafenden” Parodie sprechen. Die Vorlage werde nicht irgendwie gescholten. „Sie wird korrigiert, ihr wird die wahre Gesinnung substituiert, die dem Frommen geziemt. Polemik findet nicht statt [...]. Was die Frommen den Weltkindern entgegenzuhalten haben, ist tief ernst, bezieht sich auf das Heilige; jedes scherzende Element verbietet sich hier. In gewisser Weise kommen diese ‚Parodien’ [...] dem Begriff der Kontrafaktur nahe, der geistlichen Umdichtung weltlicher Texte”.14 Nein, diese sog. ‚Parodie’ kommt der Kontrafaktur nicht nur nahe, sie ist – sofern man über ein vernünftig geklärtes ‚Feld’ von Begriffen verfügt – eine Kontrafaktur. Wenn nämlich zu den wesentlichen, d. h. textkonstitutiven Merkmalen von Parodien das Komische im Sinne von Lachen und Herabstimmung gehört, das sich gegen den Prätext (die Prätexte) richtet, dann kann die ‚Parodie’ genannte Adaption des frommen Mannes Heinrich Ernst Graf zu Stolberg-Wernigerode vernünftigerweise nicht mehr unter „Parodie” subsumiert werden.

Dafür gibt es ein untrügliches Indiz. August Hermann Francke (1663-1727), der geistige Vater des Halleschen Pietismus, hat (als 26-jähriger) „XXX Reglen zur Bewahrung des Gewissens und guter Ordnung in der Conversation oder Gesellschaft” verfaßt und publiziert:15

Lesen: A. H. Francke: Regeln I, VI, XX und XXIV.

Es bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung, daß die komische Entstellung des parodistischen Lachens vom Bannstrahl des pietistischen Lachverbotes mitbetroffen ist. Man sollte daraus die Konsequenz ziehen, Texte des „frommen Widerspruchs” nicht mehr ‚Parodien’ zu nennen. Sie sind in der Regel Kontrafakturen!

Auf zwei Glanzstücke solcher, von den Pietisten verdammter „lachender”, Textkritik im Aufklärungsjahrhundert möchte ich abschließend noch kurz eingehen. Sie markieren zugleich den Endpunkt der aufklärerischen Parodien- und Travestienpoesie. Georg Christoph Lichtenbergs Parodie von 1783 auf die physiognomischen Arbeiten des reformierten Pfarrers Johann Kaspar Lavater sowie Aloys Blumauers Travestie von 1782-1788 auf Vergils Epos „Aeneis”. Beide Texte sind mit unterschiedlichem Umfang in der „Walpurga”-Anthologie repräsentiert (Lichtenberg S. 80-86, Blumauer S. 32-45).

Um einen Eindruck etwa von der Qualität des Lichtenbergschen Textes „Fragment von Schwänzen” zu gewinnen, sollte man beispielsweise Albrecht Schönes Faszination kennenlernen: „ein Text von wahrhaft brillantem satirischem Schliff, hinreißendem Witz, abgründigem Ernst”; und: „Als Parodie ging dieses kleine ‚Fragment von Schwänzen’ gegen die gewaltigen, geradezu goliathaften Quartbände der ‚Phyiognomischen Fragmente’ [...]” des Zürcher Theologen an. Das sind natürlich zutreffende Beobachtungen und Urteile. Und man sollte bei der Lektüre der Lichtenbergschen Parodie zugleich das konnotieren, was A. Schöne zudem in der schon zitierten Publikation als substituiertes Thema erkennt: das erotisch-sexuelle Thema, das der „satirischen Parodie” „Fragment von Schwänzen” zugrundeliegt:16

„Diese satirische Parodie übt, indem sie sich eng an Anlage und Aufmachung, an Vokabular, Redeweisen und Tonlagen der Lavaterschen ’Fragmente’ hält, eine fundamentale Methodenkritik. Mit herrlich frechem Witz transformiert sie dazu eigentlich nur das Verfahren auf ein anderes Untersuchungsobjekt: auf den Schwanz eines Ebers, einer Dogge, eines Überläufers zunächst, und dann auf die sogenannten ’Burschenschwänze’, die kleinen Zöpfe, welche an den Perücken der Göttinger Studenten baumelten (was freilich nicht ohne ein nur eben angedeutetes sexualkundliches Übertragungsangebot abging)”:

pic5 (10K)


„A. Wenn du in diesem Schwanz nicht siehest, lieber Leser, den Teufel in Sauheit, (obgleich hoher Schweinsdrang bei a) nicht deutlich erkennest den Schrecken Israels in c, nicht mit den Augen riechst, als hättest du die Nase drin, den niedern Schlamm in dem er aufwuchs bei d, und nicht zu treten scheinst in den Abstoß der Natur und den Abscheu aller Zeiten und Völker, der sein Element war – so mache mein Buch zu; so bist du für Physiognomie verloren.
Dieses Schwein, sonst gebornes Ur-Genie, luderte Tage lang im Schlamm hin; vergiftete ganze Straßen mit unaussprechlichem Mistgeruch, brach in eine Synagoge bei der Nacht, und entweihte sie scheußlich; fraß, als sie Mutter ward, mit unerhörter Grausamkeit drei ihrer Jungen lebendig, und als sie endlich ihre kannibalische Wut an einem armen Kinde auslassen wollte, fiel sie in das Schwert der Rache, sie ward von den Bettelbuben erschlagen, und von Henkersknechten halbgar gefressen.”

Nach dieser Parodie Lichtenbergs noch ein Wort zur Travestie A. Blumauers. Man wird sich nämlich fragen müssen, warum A. Blumauer einen fast genau 1800 Jahre zurückliegenden Text zum Objekt und Gegenstand travestierender Kritik gemacht hat. Die Antwort dürfte klar sein: Sie liegt wohl in der spezifischen rezeptionsgeschichtlichen Bedeutung des römischen Epos im Österreich vor der „Josephinischen Aufklärung”, d. h. in der Funktion, die der „Aeneis” im ‚ideologischen Überbau’ der absolutistischen Herrschaftsform und Staatskultur Österreichs vor der Reformpolitik Josephs II. zukam. Travestie als eine komisch-kritische Form im Ensemble ‚symbolischer Handlungen’ stellt auch hier eine indirekte, über literarische Kritik vermittelte Weise der Auseinandersetzung mit dem ‚Zeitgeist’ dar. Dabei waren Blumauers Travestie wie Lichtenbergs Parodie wohl kaum noch nur als kathartisches Mittel, also als Mittel „zur Hemmung gewisser erhabener Ausschweifungen” gedacht (so lautete ja die Funktionsbestimmung, die Johann Georg Sulzer in seiner „Allgemeinen Theorie der Schönen Künste” von 1779 gab); das parodistische „Fragment von Schwänzen” und die „Aeneis”-Travestie sind grundsätzlicher gemeint, ‚systemkritisch’ orientiert, entschiedener auf Dekonstruktion bzw. Depotenzierung ihrer Vorlagen und der mit ihnen transportierten Normen und Sichten auf Welt angelegt. Zum Schluß noch eine kleine Kostprobe aus der Travestie (in: Verweyen/Witting, Walpurga, S. 32-33):17

Aloys Blumauer
Virgils Aeneis travestirt
Zweytes Buch

Inhalt

Wie der fromme Held Aeneas der Königinn Dido und ihrem Hofgesind die Abentheuer seiner letzten Nacht in Troja und die Zerstörung dieser weltberühmten Stadt gar rührend und umständlich erzählt.

Im rothdamastnen Armstuhl sprach
Aeneas nun mit Gähnen:
Infantinn! laßt das Ding mir nach,
Es kostet mich nur Thränen.
Doch alles spitzte schon das Ohr:
Frau Dido warf die Nas’ empor,
Und schien fast ungehalten.

Was wollt’ er thun? Er mußte wohl
Den Schlaf vom Aug sich reiben:
Er nahm zwo Prisen Spaniol,
Sich’s Nicken zu vertreiben:
Drauf räuspert’ er sich dreymal, sann
Ein wenig nach, und legte dann
Sein Heldenmaul in Falten.

„Die Griechen hielten uns umschanzt
Zehn volle Jahr’ und drüber:
Allein wo man Kartätschen pflanzt,
Da setzt es Nasenstieber.
Dieß schien den Griechen nun kein Spaß,
Denn – unter uns – sie hielten was
Auf unversengte Nasen.

Mit langen Nasen wären sie
Auch sicher abgezogen,
Hätt’ uns nicht Satanas durch sie
Zu guter Letzt betrogen:
Der gab der Brut ein Kniffchen ein,
Sie thaten’s, schifften flugs sich ein,
Und schossen Retirade.

Auf einmal war’s wie ausgekehrt
Im Lager: doch sie liessen
Zurück ein ungeheures Pferd
Mit Rädern an den Füssen.
Sankt Christoph selbst, so groß er war,
Hätt’ ohne Ruptionsgefahr
Den Gaul euch nicht geritten.

Der Bauch des Rosses schreckte baß
Uns seiner Größe wegen;
Es war das Heidelberger Faß
Ein Fingerhut dagegen,
Und in dem Bauch – o Jemine!
Da lagen auch wie Häringe
Zehntausend Mann beysammen.

Doch um das rechte Konterfee
Von diesem Roß zu wissen,
So denkt, die Arche Noe steh
Vor euch – doch auf vier Füssen:
Gebt à proportion dem Thier
Noch Kopf und Schwanz, so sehet ihr
Das Monstrum in natura.


1 Horst Möller: Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai, Berlin 1974, S. 1f.
2 Friedrich Nicolai: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Kritische Ausgabe, hrsg. v. Bernd Witte, Stuttgart 1991 (= RUB: 8694), "Nachwort", S. 604-614, hier S. 604.
3 Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik, Bd. VI, 2. Aufl., hrsg. v. Robert Vischer, München 1923, S. 360: § 924.
4 Möller: Aufklärung in Preußen, S. 121.
5 Friedrich Nicolai: Freuden des jungen Werthers. Leiden und Freuden Werthers des Mannes. Voran und zuletzt ein Gespräch, mit Materialien ausgew. u. eingel. v. Wilhelm Große, Stuttgart 51984, S. 18f.
6 Vgl. Franz Carl August Philips: Friedrich Nicolais literarische Bestrebungen, Haag (Holland) 1926, S. 281.
7 Friedrich Nicolai: Eyn feyner kleyner Almanach […]. Hrsg. von Daniel Seuberlich […] [d.i. Friedrich Nicolai]. Erster u. Zweiter Jahrgang, hrsg. v. Georg Ellinger, Berlin 1888, S. XXIII  u. S. XXIV; siehe im übrigen auch die "Einleitung" zu Band 1 und Band 2.
8 Johann Gottfried Herder: Von Ähnlichkeit der mittleren englischen und deutschen Dichtkunst, nach: F.C.A. Philips: Nicolais literarische Bestrebungen, S. 289.
9 Möller: Aufklärung in Preußen, S. 121.
10 Eckhardt Meyer-Krentler: "Kalte Abstraktion" gegen "versengte Einbildung". Destruktion und Restauration aufklärerischer Harmoniemodelle in Goethes ‘Leiden‘ und Nicolais ‘Freuden des jungen Werthers‘, in: Deutsche Vierteljahrsschrift 56, 1982, S. 65-91. Die Hintanstellung der formgeschichtlichen Probleme (Travestie etc.) scheint mir allerdings sehr problematisch zu sein.
11 Erwin Rotermund (Hrsg.): Gegengesänge. Lyrische Parodien vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 1964, S. 99f.
12 Vgl. etwa Erich Meissner: Bodmer als Parodist, (Diss. Leipzig) Naumburg a.S. 1904.
13 Wolfgang Martens: Frommer Widerspruch. Pietistische Parodien auf Oden der frühen Aufklärungszeit (1988), in: ders., Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung, Tübingen 1989, S. 182-198, hier S. 185.
14 Martens: Frommer Widerspruch, S. 186f.; ebd. S. 187-189 auch die Texte von Johann Friedrich May (1697-1762; Vorlage) und Heinrich Ernst Graf zu Stolberg-Wernigerode (1716-1778; Nachfolgetext).
15 August Hermann Francke: "XXX Reglen …", in: Gustav Kramer: August Hermann Francke. Ein Lebensbild, 2 Bde., Halle a.S. 1880-1882, hier Bd. 1, S. 269-272. Für den Hinweis auf diese Schrift danke ich Herrn Dr. Harald Seubert (Erlangen, jetzt Halle).
16 Albrecht Schöne: Physiognomische Übungen zur Beförderung der Menschenkenntnis und der Liebe zu Verlegern, München 1988 (= Rede zum Jubiläumsfest des Verlegers C.H. Beck München am 17. Sept. 1988), S. 16. - Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe, hrsg. v. Wolfgang Promies, Bd. 3, München 1972, S. 533-538, hier S. 533f.
17 Zu A. Blumauers Travestie sind die ausgewählten Angaben in "Literaturhinweise 7" zu berücksichtigen.

Zum Inhaltsverzeichnis  Zum Inhaltsverzeichnis

Zum nächsten Kapitel Zum nächsten Kapitel

Zur Bibliographie Zur Bibliographie

ede-Hauptverzeichnis  Zum Ede-Hauptverzeichnis

Copyright(c) Theodor Verweyen.

Created: 20.09.1997
E-Mail an: Theodor Verweyen