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Laokoon

 

Theorie und Geschichte der Parodie / Teil I

von Theodor Verweyen


Die Vorlesung habe ich seit meinem Heidelberger Semester 1977 in den akademisch üblichen Abständen gehalten - zum letzten Mal im Sommersemester 1997 an der Universität Erlangen-Nürnberg. Diese am weitesten ausgearbeitete Erlanger Version wurde von Sabine Hülse-Scholl für die Erlanger Digitale Edition bearbeitet. Der Vorlesung liegen die gemeinsam mit Gunther Witting unternommenen und in einer Reihe von Publikationen veröffentlichten Untersuchungen zur Parodie und zu 'verwandten' Schreibweisen wie Travestie, Kontrafaktur, Cento, Pastiche und Palinodie zugrunde. Die Korrekturlesung der Internet-Version wurde am 05.07.2001 abgeschlossen. (Th.V.)

Inhaltsverzeichnis:

I. Einführung und Begründung des Vorlesungsgegenstandes
II. Begriffsgeschichten und Begriff:
1. „Parodie”: Geschichte der Wortverwendung
II. Begriffsgeschichten und Begriff:
2. „Kontrafaktur”: Terminologische Erneuerung eines Begriffs der Literaturgeschichte
II. Begriffsgeschichten und Begriff:
3. Terminologische Entscheidungen zu „Parodie” und „Kontrafaktur”
II. Begriffsgeschichten und Begriff:
4. Parodie und Urheberrecht
III. Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer Zeit‘
III. Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer Zeit‘ / 1. Die pseudo-homerische „Batrachomyomachia” als Beispiel hellenistischer Epos-Parodie
III. Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer Zeit‘ / 2. Die Parodie im Mittelalter: am Beispiel parodistischer Verarbeitungen in Heinrich Wittenwilers „Der Ring”
III. Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer Zeit‘ / 3. „Die Dunkelmännerbriefe” („Epistolae obscurorum virorum”): ein Beispiel humanistischer Satire und Parodie
III. Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer Zeit‘ / 4. Parodie und Travestie im barocken Roman: Grimmelshausens „Simplicissimus Teutsch”
IV. Geschichte der neueren deutschen Parodie
IV. Geschichte der neueren deutschen Parodie:
1. Friedrich Nicolai: „Eyn feyner kleyner Almanach” - Parodie aus dem Geist der Aufklärung
IV. Geschichte der neueren deutschen Parodie:
2. Die Parodie als Klassik-kritisches Mittel: am Beispiel einer Schiller-Parodie A.W. Schlegels aus der Zeit um 1800
IV. Geschichte der neueren deutschen Parodie:
3. Parodistische Literaturkritik im 19. und 20. Jahrhundert: von Ludwig Eichrodt bis Eckhard Henscheid
Literaturhinweise

Verweis Lenore fuhr ums Morgenrot
Die Parodie-Sammlung der Erlanger Liste.
 
 

I. Zur Einführung und Begründung des Vorlesungsgegenstandes: Geschichten der Bewertung kritischer Literaturverarbeitungen

Brief des Börries von Münchhausen:1

„Ich bin ein erbitterter Feind aller derjenigen Parodien, die eine Veralberung und Verunglimpfung eines großen Kunstwerkes bedeuten, und habe mich darüber ja in dem Schiller-Aufsatz meiner ‘Meisterballaden‘ heftig genug ausgesprochen. So konnte man etwa zwanzig Jahre lang nicht vom Erlkönig sprechen, ohne daß sofort einige der Anwesenden ins Lachen gerieten und anfingen, einem eine ekelhafte sächsische Veralberung dieses großen Kunstwerkes unseres Volkes herzusagen. Ähnlich ist es manchen Schillerschen Balladen gegangen, z. B. dem Handschuh, in dem die Schüler jeder Zeile abwechselnd zwei an sich belanglose Wörter anhingen, die immer von Zeit zu Zeit dem Gedichte einen unanständigen Inhalt unterlegten. Durch solche Parodien werden große Kunstwerke unseres Volkes beschmutzt, nicht anders, als eine Marmorstatue, der die Gassenbuben gewisse Körperteile anmalen, oder die Reproduktionen wertvoller Bilder in den Journalzirkeln, die von bösartigen Laffen durch aufgemalte Schnurrbärte, etwa an Leonardos wundersamem Mädchenbildnis, beschimpft werden. Wer mir eine Mark aus der Tasche stiehlt, der wird mit Gefängnis bestraft, wer aber ein großes Gedicht, d. h. einen der höchsten und seltensten Kulturschätze unseres Volkes durch eine solche Parodie verunglimpft, geht straffrei aus, obgleich die zwangsläufige Erinnerung an den Unfug einem das Werk auf Jahre hinaus unmöglich macht. – Neben diesen bösartigen Parodien, die sich immer auf ein einzelnes Werk beziehen, steht eine zweite Art, die streng davon zu unterscheiden ist. Sie verunglimpft nicht ein einzelnes Gedicht, sondern sucht ein neues Werk zu schaffen, das die Eigenart des Dichters zur Manier steigert. Es handelt sich hier also um eine beinahe wissenschaftliche Aufgabe: Alle Eigentümlichkeiten des Dichters übertreibend so zusammenzufassen, daß ein humoristischer Eindruck entsteht. Bei den bösartigen Verunglimpfungen ist es ganz gleichgültig, ob der Täter künstlerische Fähigkeiten besitzt oder nicht, – wer mir den Dolch zwischen die Schultern stößt, mag das kunstgerecht wie ein Metzger oder Chirurg tun, oder aber kunstlos wie der Straßenräuber, – das ist gleichgültig gegenüber der Tatsache der Körperverletzung. Wer aber eine Parodie der zweiten Art schreibt, der muß nicht nur ein feiner Kenner des gesamten Werkes, ja beinahe Philologe sein, sondern auch über eine hohe dichterische Gabe, mindestens dichterische Technik verfügen, wenn das Werk einem Gebildeten gefallen soll (1943, S. 7f.).”

Das soeben Vorgelesene gibt nicht meine Ansicht wieder. Es ist Zitat. Ich habe diesen etwas längeren Auszug vorausgeschickt, damit von vornherein Klarheit herrsche, wovon in dieser Stunde und im Laufe des Semesters die Rede sein soll. Der auszugsweise angeführte Text stammt aus einem Brief, den Ernst Heimeran, Münchner Verleger und Herausgeber einer Parodie-Anthologie, im Vorwort eben seiner Textsammlung abgedruckt hat. Die Sammlung hat den sprechenden Titel „Hinaus in die Ferne mit Butterbrot und Speck. Die schönsten Parodien auf Goethe bis George” und erschien 1943. Den Brief an Heimeran schrieb Börries Freiherr von Münchhausen, jener von 1874 bis 1945 lebende Autor, der angeblich als bedeutendster deutscher Balladendichter des 20. Jahrhunderts in die Annalen der deutschen Literaturgeschichte eingegangen ist. In diesem Brief wird dem Herausgeber Heimeran sogar geraten, die Sorte der ‚veralbernden’ und ‚verunglimpfenden’ Parodien in der geplanten Anthologie unberücksichtigt zu lassen: zweifellos ein Zeugnis der skandalisierenden Wirkung komischer Text- und Bildverarbeitungen.

Kümmern wir uns fürs erste noch nicht um die - möglicherweise gar nicht einmal sinnvolle – Unterscheidung zwischen ‚verunglimpfender’ und, wie es für gewöhnlich heißt, ‚bloß’ komischer Nachahmung. Machen wir uns zunächst einmal klar, wovon in Münchhausens Brief überhaupt die Rede ist. Ausgangspunkt sollte mithin ein Text sein, der in direkter Beziehung zum Metier Münchhausens steht, also zum Metier der Balladenkunst, und dabei allen Vorwürfen gerecht wird, die der sog. ‚Meister’ der balladesken Kunst gegen den Kunstattentäter erhebt. Das soll hier eine Parodie von keinem Geringeren als Clemens Brentano aus dem Jahre 1803 sein (vgl. Verweyen/Witting: „Walpurga”, S. 92):

Es saß der Meister vom Stuhle,
Gar frech im eignen Kot,
Wer wagt sich zu dem Pfuhle,
Es tun ihm Prügel not,

Wer schmeißt mich über und über,
Wer bläst das Licht mir aus,
Wer giebt mir Nasenstüber,
Wer schickt mich recht nach Haus.

Und kömmt er einst zum sterben,
So stirbt sein ganzes Reich,
Die Frösche all verderben,
Krepiert er in dem Teich.

Er saß einst an der Saale,
Nun sitzt er auf dem Sand,
Und hat bei seinem Mahle
Die Esel all zur Hand.

Da sitzt er, keiner frecher,
Und platzet fast vor Wut,
Und reicht den giftigen Becher
Sich selbst und seiner Brut.

Wir sehn ihn platzen, sinken
Und stinken in eigner Schmer,
Laßt ihn nur aus sich stinken,
Dann stinkt es nimmermehr.

Man wird seine Schwierigkeiten mit dem Verständnis dieses Textes haben, solange nicht die Vorlage mitrealisiert ist, die Gegenstand des komischen ‚Attentats’ von Brentano wurde – hier entgegen der Befürchtung Börries von Münchhausens einmal nicht Goethes naturmagische Ballade „Erlkönig”, auch nicht Schillers Gedicht „Der Handschuh”; diesmal ist es das sog. „Thule”-Gedicht aus dem ersten Teil des „Faust” (HA 3, S. 390f.):2

Es war ein König in Thule,
Einen goldnen Becher er hätt‘
Empfangen von seiner Buhle
Auf ihrem Todesbett.

Der Becher war ihm lieber,
Trank draus bei jedem Schmaus;
Die Augen gingen ihm über,
So oft er trank daraus.

Und als es kam zu sterben,
Zählt‘ er seine Städt und Reich,
Gönnt alles seinen Erben,
Den Becher nicht zugleich.

Er saß beim Königsmahle,
Die Ritter um ihn her,
Auf hohem Vätersaale
Dort auf dem Schloß am Meer.

Dort stand der alte Zecher,
Trank letzte Lebensglut
Und warf den heil‘gen Becher
Hinunter in die Flut.

Er sah ihn stürzen, trinken
Und sinken tief ins Meer,
Die Augen täten ihm sinken,
Trank nie einen Tropfen mehr.

Ich habe das Gedicht in einer der frühen Fassungen vorgelesen. Entstanden 1774, ging es in die Szene „Abend” der Gretchenszenen-Folge des „Faust in der ursprünglichen Gestalt” von 1775/76 ein. Das Gedicht erfuhr eine durchgreifende Bearbeitung bei der Veröffentlichung des „Faust, ein Fragment” im Jahre 1790. Die „Urfaust”-Version der „Thule”-Ballade, die ich zu Gehör gebracht habe, konnte dem Parodisten Brentano allerdings kaum bekannt sein. Der „Urfaust” nämlich war nur durch die Abschrift des Hoffräuleins Luise von Göchhausen erhalten geblieben und erst 1887 – wohlgemerkt erst 1887 – im Nachlaß des Fräuleins entdeckt worden. Freilich gab es neben der Fassung von 1790 noch andere Überlieferungen, an die Brentano anknüpfen konnte: so erschien Goethes Gedicht etwa 1782 in der 3. Sammlung „Volks- und andere Lieder ... in Musik gesetzt von S. v. Seckendorff”3; ferner unter den Gedichten in den „Neuen Schriften” Goethes von 1800. Der in Musik gesetzte Text von 1782 weicht dabei nur wenig von der frühen „Faust”-Version der Ballade ab, während die spätere Fassung von 1800 ganz nahe an die überarbeitete „Faust”-Gestalt des Jahres 1790 heranführt.

Es ist nun sehr wahrscheinlich, daß Brentano die Ballade in der in Musik gesetzten Weise von 1782 kennenlernte. Wie Luise Hensel, eine enge Vertraute des Dichters während seiner Berliner Zeit, zu berichten weiß, war Goethes Lied ein „Lieblingsgesang” Brentanos, den er „ungemein schön zu seiner viersaitigen Guitarre” sang; auch Joseph von Eichendorff berichtet in seinem Tagebuch am 24. Dezember 1809 über Brentanos Gesang:

„Im Februar besuchte uns einmal der herrliche Brentano. Sein Weltauslachen und sogenannte Grobheit bis zum göttlichen Wahnsinn. Er spielte Guitarre. Sein Bettler, blau, blau, König von Thule etc.: himmlisch ...”.

Schon im Frühling 1801 schreibt Brentano selbst:4

„Ich war mit Savigny am Rhein und stand, wo ich sonst stand, und werde den Frühling mit ihm im Schlosse der Gisella wohnen, wir sind die innigsten Menschen. Als ich oben auf dem Punkte der Aussicht stand, war mein Herz bewegt, und ich bin so begeistert gewesen wie nie und sang mit Andacht: Ich bin ein König in Thule.”

Jüngere Forschung hebt in diesem Zusammenhang Brentanos eigenwillige Aufnahmefähigkeit hinsichtlich der literarischen Kunst hervor: dieser habe sich hier wie so oft durch Textänderungen das Gedicht Goethes so völlig anverwandelt, daß ‚Thule’ in seinem eigenen Werk Metapher für das Reich der Phantasie und ‚der Becher’ des Königs von Thule Symbol des irdischen Glücksverlangens geworden sei.5

In diesem Kontext muß nun freilich – und damit komme ich auf mein Hauptgeschäft zurück – die kritische Bearbeitung, die Parodie der „Thule”-Ballade durch und durch befremdlich wirken. Wie kann es möglich sein, so werden Sie sich gewiß fragen, daß ein in dieser von Respekt, ja Bewunderung und Zuneigung getragenen Textzuwendung, ein in dieser Art dem literarischen und dichterischen Haushalt Brentanos einverleibter Text so der parodistischen Verfremdung durch denselben Autor ausgesetzt wird? Zum befremdlichen Tatbestand kommt ein für den Liebhaber von Gedichten schmerzlicher Sachverhalt hinzu.

Max Kommerell, ein ebenso begnadeter wie eigenwilliger Interpret deutscher Dichtung, hat in eindringlichen Gedanken den Adel der balladesken Gattung, „der sie über den Bänkelsang erhebt”, herausgearbeitet – eine Dignität, so Kommerell, durch die sich eben die Dignität der Ballade zu der des Bänkelsangs verhalte „wie Dichtung zur Zeitung”. Worin besteht nach Kommerells Anschauung diese Dignität, der Adel der Ballade? Zunächst einmal in der Eigenart, „daß sie (die Ballade) zurückverweist”. Dabei fühlen sich „die späteren Menschen (nicht nur) durch sie zurückverwiesen, das Zurückverweisende ist die Ballade selbst”. Dies hängt damit zusammen, daß „die Vergangenheit der Ballade (...) nicht chronologisch” ist; sie ist – wie sich in der Ballade des Königs von Thule vollkommen bestätige – „Altertümlichkeit des Geschehens, Altertümlichkeit des Fühlens”.6

Vor dem Hintergrund dieser generellen Überlegungen zur balladesken Gattung entwirft Kommerell nun sein Verständnis des „König in Thule”. Auch diese Ballade sei „eines altertümlichen Stiles mächtig”; und auch diese Ballade habe, wie die vom Heidenröslein aus dem Jahr der „Thule”-Ballade, ein Wort, das herausfällt und herausfallen soll. Es ist das Wort „Lebensglut”:7

„dies Trinken letzter Lebensglut, das ist weniger eine alte Gebärde als der Hinblick auf eine alte Gebärde. Der König lebt im Nachglanz. Was er hat, ist so wahr Vermächtnis, als er König ist. Er ist es durch diesen Becher, er ist der König dieses Bechers zum Unterschied zu anderen Königen. Das Gedicht erzählt von Überlieferungen. Der Becher ist ein Pfand, das ihm die sterbende Geliebte übermacht hat. Er lebt sich selber in diesem Becher mit seiner Jugend und seiner Liebe. Er gibt ihn nicht weiter, er verbraucht ihn für seinen Abschied vom Leben, und der Becher sinkt im Meer ‚trinkend’ wie ein Wesen. Niemand wird nach ihm diesen Becher haben; er ist ein König, mit dem eine Welt stirbt. Das Land dieses Königs ist verschollen, das Gerücht von seinem Becher pflanzt sich fort. War er dem König ein Pfand: Gegenwart von viel Gestorbenem in einem Ding – ist da nicht dieses Gedicht ein Pfand des Pfandes?”

Ich habe hier M. Kommerells Gedanken über den „König in Thule” etwas ausführlicher referiert und zitiert, damit die Grundlagen angedeutet sind, aus denen der skandalisierende Effekt der Parodie Brentanos letztlich hervorgeht. Ich kontrastiere nun noch einmal Vorlage und Verarbeitung, um jenen Effekt entstehen zu lassen. Zunächst das M. Kommerell zu solchen Gedanken anregende Original: jetzt in der klassisch gedämpften, stilistisch geglätteten Fassung; danach sein parodistisches Gegenstück von Brentano:

Goethe:8

Es war ein König in Thule
Gar treu bis an das Grab,
Dem sterbend seine Buhle
Einen goldnen Becher gab.

Es ging ihm nichts darüber,
Er leert‘ ihn jeden Schmaus;
Die Augen gingen ihm über,
So oft er trank daraus.

Und als er kam zu sterben,
Zählt‘ er seine Städt‘ im Reich,
Gönnt‘ alles seinem Erben,
Den Becher nicht zugleich.

Er saß beim Königsmahle,
Die Ritter um ihn her,
Auf hohem Vätersaale,
Dort auf dem Schloß am Meer.

Dort stand der alte Zecher,
Trank letzte Lebensglut,
Und warf den heiligen Becher
Hinunter in die Flut.

Er sah ihn stürzen, trinken
Und sinken tief ins Meer,
Die Augen täten ihm sinken,
Trank nie einen Tropfen mehr.

Brentano (in: Verweyen/Witting, „Walpurga”, S. 92):9

Es saß der Meister vom Stuhle,
Gar frech im eignen Kot,
Wer wagt sich zu dem Pfuhle,
Es tun ihm Prügel not,

Wer schmeißt mich über und über,
Wer bläst das Licht mir aus,
Wer giebt mir Nasenstüber,
Wer schickt mich recht nach Haus.

Und kömmt er einst zum sterben,
So stirbt sein ganzes Reich,
Die Frösche all verderben,
Krepiert er in dem Teich.

Er saß einst an der Saale,
Nun sitzt er auf dem Sand,
Und hat bei seinem Mahle
Die Esel all zur Hand.

Da sitzt er, keiner frecher,
Und platzet fast vor Wut,
Und reicht den giftigen Becher
Sich selbst und seiner Brut.

Wir sehn ihn platzen, sinken
Und stinken in eigner Schmer,
Laßt ihn nur aus sich stinken,
Dann stinkt es nimmermehr.

Über Brentanos parodistisches Gegenstück selbst möchte ich an dieser Stelle noch nichts sagen: noch nichts über das Verfahren der Ersetzung eines ‚erhabenen’ Gegenstandes durch einen ‚niedrigen’, deutlich negativ konnotierten Gegenstand; noch nichts über das merkwürdige ‚Zersingen’ des Vorbildliedes, das das genaue Gegenteil der Einheit aller Teile, nämlich Desintegration, bewirkt; noch nichts über die aus sog. niederen Sprachbereichen und Sprachtraditionen entlehnten Bilder und lexikalischen Bestände wie „Leibstuhl” und „Kot” und „Prügel”, „jemandem das Licht ausblasen”, „krepieren” und „Frösche” und „Brut”, „platzen”, „stinken” und „Schmer”. Darüber spreche ich an anderer Stelle. Heute geht es mir darum, zu zeigen, daß in der Regel dann geglückte Kommunikation über Parodien eingetreten ist, wenn die Leser sich so aufgeregt zeigen, wie es Börries von Münchhausen in dem eingangs zitierten Brief tat; ich möchte ferner zeigen, welche Folgen diese primären Kommunikationsakte für die literaturwissenschaftliche Einschätzung solcher Gegenstände wie Parodie, Travestie, Pastiche, Kontrafaktur usw. zeitigten. Zunächst aber stelle ich einige weitere Fälle dieser Art aus dem literarischen Leben vor.

Im Herbst 1774 erscheint anonym in der Weygandschen Buchhandlung zu Leipzig eine, wie der streitbare Hamburger Hauptpastor Melchior Goeze, der Kontrahent etwa Lessings, abkanzelte, „des Fluchs würdige Schrift”: „Die Leiden des jungen Werthers” – die Schrift, die ebenso leidenschaftlich verschlungen wie drastisch kritisiert wurde. Ein Beispiel für die erste Art der Aufnahme etwa durch Christian Friedrich Schubart, den unbeugsamen Fürsten- und Jesuitenkritiker, der 1758 hier in Erlangen Theologie studiert hat; in der „Deutschen Chronik” vom 5. Dezember 1774 outet sich der genialische Kraftkerl über Goethes Roman:10

„Da sitz ich mit zerfloßnem Herzen, mit klopfender Brust, und mit Augen, aus welchen wollüstiger Schmerz tröpfelt, und sag dir, Leser, daß ich eben die ‚Leiden des jungen Werthers’ von meinem lieben Göthe – gelesen? – Nein, verschlungen habe. Kritisiren soll ich? Könnt ichs, so hätt ich kein Herz. [...] Soll ich einige schöne Stellen herausheben? Kann nicht; das hieße mit dem Brennglas Schwamm anzünden, und sagen: Schau, Mensch, das ist Sonnenfeuer! – Kauf’s Buch, und lies selbst! Nimm aber Dein Herz mit!”

Während die Kurfürstlich-Sächsische Bücherkommission am 30. Januar 1775, einem Begehren der theologischen Fakultät zu Leipzig folgend, den Vertrieb des Buches „bey Zehen Thaler-Strafe hierdurch, bis auf weitere Verordnung, ausdrücklich untersaget” und dadurch geradezu eine Garantie für den bestsellerhaften Erfolg des Romans gab, erstand den „Leiden Werthers” in der Berliner Gruppe der Aufklärungsphilosophen um Friedrich Nicolai eine Kritik, die sich beispielsweise der literarischen Formen der Travestie und Parodie bediente und genau darin den nervus rerum der fieberhaften Aufnahme des Romans treffen konnte – durch Kritikformen also, die sich besonders dazu eignen, pathoshaltige Züge eines Werkes durch banal-komische Substitutionen herabzustimmen. In Friedrich Nicolais Travestie mit parodierenden Zitationsverfahren, die Anfang 1775, also wenige Monate nach Goethes Werk erschien, schlägt sich das beispielsweise in einem Coup aus der Schmierenkomödie nieder: Werther ‚streckt’ sich mit einer mit Hühnerblut gefüllten Pistole ‚nieder’, um sich nach dem Verzichtsversprechen Alberts, der die Idee der Blutblase überhaupt hatte und durchführte, eiligst in die bürgerlichen Wonnen einer Hochzeit mit Lotte zu stürzen: nach den „Freuden des jungen Werthers” mit Gewißheit der Beginn der „Leiden Werthers des Mannes”, wenn ich einmal die Titel der Travestien ausbeute!

Fühlen sich die Werther-Fiebernden skandalisiert: also verhöhnt, angemacht, verarscht? Jakob Michael Reinhold Lenz, der unglückliche Adept des Stürmers und Drängers Goethe, faucht in seinen „Briefen über die Moralität der Leiden des jungen Werthers” (4. Brief) vor Wut und Entrüstung:11

Vierter Brief

Nicolais Parodie ein Meisterstück? – Eine Schande seines Herzens und seines Kopfs. Was geht mich hier der Verfasser des „Nothankers” an, ich will‘s Ihnen beweisen.
Es hätte Sie zu lachen gemacht? – Mich auch, aber wie Demokriten mit Hohngelächter. Wenn man mit einer vielbedeutenden Miene die allerelendesten Plattheiten auskramt, was kann das anders erregen als Unwillen und Hohngelächter.
Der ganze Wisch ist so unwitzig, so furchtsam, so hergestottert für eine Pasquinade, die Erfindung mit der Blutbiase so armselig, die Scheidungen Werthers und Lottens so wenig in ihren Charakter hineingedacht, daß ich hier wohl die sonst ironischen Verse Popens in eigentlichem Verstande brauchen möchte [...]

Wie denn? Lotte – nach der Anlage – einem solchen Kerlchen wie er beschreibt Gehör geben, um – Werthern wehe zu tun, der unter der Last der öffentlichen Geschäfte schmachtete? Pfui mit welchen elenden Ideen muß der Mann von dem Buch aufgestanden sein, ich möcht um aller Welt Güter willen in dem Augenblick nicht mit seinem Herzen getauscht haben.
Soll er da vielleicht das Meisterstück bewiesen haben, da er die ganze Geschichte so schön durcheinanderzettelt, daß das Hinterste zuvorderst kommt, Szenen die nach der Verheuratung vorgingen, vor die Verheuratung setzt und damit möcht ich sagen die Seele der ganzen Rührung herauszieht und alles zur elendesten Karikatur macht? Hat der Mensch auch wohl bedacht, was für Hindernisse sich gleich anfangs der Verbindung Werthers mit Lotten entgegenstellten und wie tief und unveränderlich unvermeidlich Werther das empfinden mußte, um Werther zu werden. Das gegebene Versprechen, das öffentliche Amt Alberts kurzum nichts mehr und nichts weniger als die ganze Ruhe und das ganze Glück seiner Lotte selber. Und wie die anwachsende Empfindung der Unmöglichkeit Lotten jemals zu besitzen, diese heilige moralische Empfindung der Unverletzlichkeit des ehelichen Verhältnisses, nur und allein ihn zu dem verzweifelten Entschluß hinaufschrauben konnte. Und wie alles sogleich elende jämmerliche Fratze wird, was sonst das Angesicht eines leidenden Engels war, sobald diese Bedingung wegfällt, diese unübersteiglichen Schwürigkeiten wegfallen. In der Tat ein Meisterstück eines parodierenden Pasquillanten, wenn er nur sonst Witz und Herz genug hätte Pasquillant zu sein. So aber da er unter der Larve eines von den sieben Weisen erscheint, und doch alle Kunstgriffe eines Pajaß gebraucht – wer kann ihn da ohne Unwillen sehen Kapriolen schneiden.
Nun aber habe ich auch gesagt, daß die Schrift seinem Herzen Schande mache. Welcher Schriftsteller der imstande ist den Wert eines Genies nur einigermaßen zu erkennen und zu fühlen, welcher Schriftsteller hat das Herz zu sagen: ein Genie ist ein schlechter Nachbar. Ihm die bittere Kränkung ins Herz zu schieben, seine Schriften zeigen von vielen großen Talenten, aber sie schaden dem Publikum und das ganz gelassen zu sagen. [...]
Wie wenn ich das Blatt umkehrte und ihm nicht ganz gelassen, sondern mit vieler Hitze bewiese, seine kalte und abgeschmackte Parodie habe dem Publikum (ich meine dem seinigen) in eben dem Maße geschadet, als ihm die Lesung der „Leiden des jungen Werthers” Nutzen gebracht haben würde.

J.M.R. Lenz’ an Nicolai adressierter Vorwurf mangelnder Einfühlung, banal-komischer Ersetzungen, trivialisierender Verharmlosung, unproportionaler Dekomposition braucht hier noch nicht unser Interesse zu binden. Auf den Tonfall der Reaktion auf die Kritik kommt es uns an – und der ist eindeutig: gereizt! Er entspricht darin durchaus den Reaktionen Goethes selbst, etwa in einer Klage gegenüber Auguste Gräfin zu Stolberg im März 1775:

„Ich bin das Ausgraben und Sezieren meines armen Werthers so satt. Wo ich in eine Stube trete find ich das Berliner ppp Hundezeug [...]”.
(Erläuterung: ppp =undsoweiterundsoweiter)

Gemeint sein könnte damit auch eine Travestie wie die von Heinrich Gottfried Bretschneider (in der Anthologie „Walpurga”, S. 70-76):

Eine entsetzliche Mordgeschichte von dem jungen Werther.
wie sich derselbe den 21 December durch einen Pistolenschuß eigenmächtig ums Leben gebracht.
Allen jungen Leuten zur Warnung, in ein Lied gebracht, auch den Alten fast nutzlich zu lesen.

Im Thon:
Hört zu ihr lieben Christen 1776.

1.
Hört zu ihr Junggesellen
Und ihr Jungfräulein zart
Damit ihr nicht zur Höllen
Aus lauter Liebe fahrt.

2.
Die Liebe, traute Kinder!
Bringt hier auf dieser Welt
Den Heil‘gen wie den Sünder
Um Leben Gut und Geld.

3.
Ich sing euch von dem Mörder,
Der sich selbst hat entleibt
Er hies: der junge Werther
Wie Doctor Göthe schreibt.

4.
So witzig, so verständig
So zärtlich als wie er
Im Lieben so beständig
War noch kein Sekretair.

5.
Ein Pfeil vom Liebesgotte
Fuhr ihm durchs Herz geschwind
Ein Mädchen, sie hies Lotte
War eines Amtmanns Kind.

6.
Die stand als Vice-Mutter
Geschwistern treulich vor
Und schmierte Brod mit Butter
Dem Fritz und Theodor.

7.
Dem Liesgen und dem Kätgen
So traf sie Werther an
Und liebte gleich das Mädgen
Als wär‘s ihm angethan.

8.
Wie in der Kinder Mitte
Sie da mit munterm Scherz
Die Butterahmen schnitte -
Da raubt‘ sie ihm das Herz.

9.
Er sah, beklebt mit Rotze
Ein feines Brüderlein
Und küßt‘ dem Rotz zum Trotze
An ihm, die Schwester sein.

10.
Fuhr aus, mit ihr zu tanzen
Wohl eine ganze Nacht
Schnit Menuets der Franzen
Und walzte, daß es kracht‘

11.
Sein Freund kam angestochen
Blies ihm ins Ohr hinein
Das Mädgen ist versprochen
Und wird den Albert freyn.

12.
Da wollt‘ er fast vergehen
Spart‘ weder Wunsch noch Fluch
Wie alles schön zu sehen
In Doktor Göthes Buch

13.
Kühn gieng er, zu verspotten
Geschick und seinen Herrn
Fast täglich nun zu Lotten,
Und Lotte sah ihn gern.

14.
Er bracht den lieben Kindern
Lebkuchen, Marcipan
Doch alles konnt‘s nicht hindern,
Der Albert wurd ihr Mann

15.
Des Werthers Angstgewinsel
Ob diesem schlimmen Streich
Mahlt Doktor Göthes Pinsel
Und keiner thut‘s ihm gleich.

16.
Doch wollt er noch nicht wanken
Und stets bey Lotten seyn,
Dem Albert macht‘s Gedanken
Ihm traumte von Geweyhn.

17.
Herr Albert schaute bitter
Auf die Frau Albertin –
Da bat sie ihren Ritter
„Schlag mich dir aus dem Sinn.

18.
Geh fort zieh in die Fremde
Es giebt der Mädchen mehr –”
Er schwur beym letzten Hemde
Daß sie die einz‘ge wär.

19.
Als Albert einst verreiste
Sprach Lotte „bleib von mir”
Doch Werther flog ganz dreiste
In Alberts Haus zu ihr.

20.
Da schickte sie nach Frauen
Und leider keine kam, –
Nun hört mit Furcht und Grauen
Welch Ende alles nahm.

21.
Der Werther las der Lotte
Aus einem Buche lang
Was einst ein alter Schotte
Vor tausend Jahren sang.

22.
Es war gar herzbeweglich
Er fiel auf seine Knie
Und Lottens Auge kläglich
Belohnt ihm seine Müh.

23.
Sie strich mit ihrer Nase
Vorbey an Werthers Mund,
Sprang auf als wie ein Hase
Und heulte wie ein Hund.

24.
Lief in die nahe Kammer
Verriegelte die Thür
Und rief mit großem Jammer:
„Ach Werther geh von mir!”

25.
Der Arme muste weichen
Alberten dem‘s verdroß
Konnt‘s Lotte nicht verschweigen,
Da war der Teufel los.

26.
Kein Werther konnt sie schützen
Der suchte Trost und Muth
Auf hoher Felsen Spitzen
Und kam um seinen Hut.

27.
Zuletzt lies er Pistolen
Im Fall es nöthig wär
Vom Schwager Albert holen
Und Lotte gab sie her.

28.
Weil‘s Albert so wollt haben,
Nahm sie sie von der Wand
Und gab sie selbst dem Knaben
Mit Zittern in die Hand.

29.
Nun konnt er sich mit Ehre
Nicht aus dem Handel ziehn
Ach Lotte! die Gewehre
Warum gabst du sie hin?

30.
Alberten recht zum Possen
Und Lorten zum Verdruß
Fand man ihn früh erschossen –
Im Haupte stack der Schuß.

31.
Es lag und das war‘s beste
Auf seinem Tisch ein Buch
Gelb war des Todten Veste
Und blau sein Rock, von Tuch.

32.
Als man ihn hingetragen
Zur Ruh bis jenen Tag
Begleit‘n ihn kein Kragen
Und auch kein Ueberschlag

33.
Man grub ihn nicht in Tempel
Man brennte ihm kein Licht
Mensch nimm dir ein Exempel
An dieser Mordgeschicht!

Goethes Verärgerung über das „Hundezeug” machte sich Luft in Spottgedichten wie dem folgenden:12

Nicolai auf Werthers Grabe, 1775
„Freuden des jungen Werthers”

Ein junger Mensch, ich weiß nicht wie,
Starb einst an der Hypochondrie
Und ward denn auch begraben.
Da kam ein schöner Geist herbei,
Der hatte seinen Stuhlgang frei,
Wie‘s denn so Leute haben.
Der setzt‘ notdürftig sich aufs Grab
Und legte da sein Häuflein ab.
Beschaute freundlich seinen Dreck,
Ging wohl eratmet wieder weg
Und sprach zu sich bedächtiglich:
„Der gute Mensch, wie hat er sich verdorben!
Hätt er geschissen so wie ich,
Er wäre nicht gestorben!”

Wird hier vom Stürmer und Dränger Goethe nach dem Motto verfahren, daß auf einen groben Klotz ein grober Keil gehöre, so gibt es genau zu dieser Zeit der „literarischen Revolution”, in der die vielfältigsten Brechungen poetischer Normen auf der thematischen wie auf der formalen Ebene vor nichts mehr zurückschreckten, auch durchaus Stimmen aufgeklärter Ästhetiker, die mäßigend wirken wollten: etwa Johann Georg Sulzer. Dessen „Allgemeine Theorie der Schönen Künste” erschien in zwei Teilen 1773 bis 1775 und enthält im zweiten Teil von 1775 einen „Parodie”-Artikel, in dem Erfahrungen Sulzers auf einer Reise durch Frankreich festgehalten sind – Erfahrungen, wie etwa die Tragödie in der Parodie auf französischen Bühnen behandelt wurde. Sulzers Reaktionen sind freilich immer noch nicht entschieden genug, obwohl er so etwas wie die kathartische Wirkung von Travestie und Parodie kennt und durchaus schätzt: ‚kathartisch’? Das meint die „Hemmung gewisser erhabener Ausschweifungen und des gelehrten, politischen und gottesdienstlichen übertriebenen Fanatismus”; dennoch gilt auch für ihn:

„Man muß es”, so Sulzer skandalisiert, „weit im Leichtsinn gebracht haben, um an solchen Parodien Gefallen zu finden, und ich kenne nicht leicht einen größeren Frevel als den, der wirklich ernsthafte, sogar erhabene Dinge, lächerlich macht.” Es stünde zu befürchten, daß „durch Parodien die wichtigsten Gedichte [d. h. Dichtungen] und die erhabensten Schriften über wahrhaftig große Gegenstände, allmählig so lächerlich gemacht werden, daß die ganze schönere Welt sich derselben schämte.” Daher appelliert Sulzer in seiner Enzyklopädie der schönen Künste auch an die deutschen Kunstrichter, „sich bey Zeiten mit dem gehörigen Nachdruck dem Mißbrauch widersetzen” zu wollen, wobei der Vorwurf des Mißbrauchs nach Sulzer besonders zu erheben sei, wenn ‚Parodien’ „blos zum Lustigmachen” gebraucht würden.13

Mit diesen wenigen, in der Regel empörten Reaktionen auf parodistische und travestierende Verfremdungen von Werken der Literatur und bildenden Kunst soll es zunächst sein Bewenden haben. Nicht ohne Grund habe ich vor allem die Reaktionen aus solchen Zeiten der literarischen und künstlerischen Veränderung hergenommen, in denen die Mittel, Verfahren und Themen der Kunst eine gewisse ‚Revolutionierung’ erfuhren: eben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts oder um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert. Welchen Anteil an diesen literarischen Umbrüchen Travestie, Parodie usw. wirklich haben, ist bislang übrigens nicht hinreichend erforscht. Dieses Versäumnis aber geht nicht zuletzt auf das gebrochene Verhältnis der philosophischen Ästhetik und der akademischen Literaturgeschichtsschreibung gegenüber solchen Gegenständen aus den Bereichen der literarischen Komik, des literarischen Humors, der Ironie, der Satire, der Verballhornung etc. zurück. Das möchte ich im folgenden noch kurz zeigen.

Ein besonders sprechendes Zeugnis für das gebrochene Verhältnis der akademischen Kunstdeutung zu den Gegenständen der Komik liegt uns in dem letzten großen Systementwurf einer philosophischen Ästhetik vor: in der „Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen” von Friedrich Theodor Vischer, dem von 1866-1877 tätigen Ordinarius für Ästhetik und Literatur am Polytechnikum in Stuttgart und zeitweilig auch in Tübingen. Regelmäßigen Hörern meiner Vorlesungen brauche ich über die Bedeutung Vischers und seiner Lehr- und Publikationstätigkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nichts mehr zu sagen. Um so signifikanter und gewichtiger sind gerade Vischers Beurteilungen der Formen und Verfahren komisch-kritischer Intertextualität.

Solche Formen und Verfahren der Auseinandersetzung mit der Literatur im Medium der Literatur werden von Vischer erst im „Anhang zur Lehre von der Dichtkunst überhaupt” besprochen und aufgeführt; berücksichtigt erst am Ende nicht nur des sechsten und letzten Bandes, sondern überhaupt am Rande, ja außerhalb des Systems der Künste – und dies also nicht im Sinne des Schlußsteins eines großartigen Bogens, sondern im Sinne einer Dislokation, einer ortlosen Freiheit. Betroffen sind von dieser ästhetisch-theoretischen Dislokation „Satirische, didaktische Poesie, Rhetorik”, mithin solche Bereiche der Poesie, die ins Reich der „Prosa” (d. h. im Sinne Hegels der kunstfernen Realität) hinübergreifen. So „entsteht eine Mischung des Schönen mit dem Wahren und Guten, welche, obwohl nicht rein ästhetisch, doch von großer allgemein menschlicher, geschichtlicher Bedeutung ist”. Vischer nimmt im „Anhang” seiner Ästhetik diese und ähnliche Bestimmungen wiederholt auf, um die Zwitterstellung von „satirischer, didaktischer Poesie, Rhetorik” zu kennzeichnen. Eine Formulierung aus einer Reihe ‚verwandter’ Bemerkungen führe ich hier noch an:14

„Satire und Didaktik nebst Rhetorik gehören zu den gewaltigsten Hebeln des ethischen, politischen Lebens und die Bewegung der Geschichte wäre ohne sie nicht zu denken. Ihr Wesen und ihre reichen, gerade durch ihre gemischte Natur schwierigen Formen sind daher der gründlichsten Untersuchung wert, aber in gesonderter Behandlung oder als Anhang einer Poetik [...] Daß aber dieses Gebiet nur einen Anhang der Lehre von der Poesie, nicht einen Teil derselben bilden kann, bedarf längst keines Beweises mehr; eher wäre es der Mühe wert, zu erklären, wie es kam, daß man so lange die grobe logische Sünde der Einteilungen übersehen konnte, die das Didaktische und Verwandte dem Epischen, Lyrischen, Dramatischen koordinierten.”

Satirische und didaktische Literatur (mit „didaktischer Literatur” ist das weite Feld der literarischen Zweckformen gemeint) sowie Rhetorik (mit „Rhetorik” ist das traditionsreiche, aus der lateinischen Antike stammende Feld der Schulrhetorik gemeint) bilden nach Vischers Systematik jenen Formenbestand, der sich auf dem Wege „in das außerästhetische Gebiet” befindet und „auf dem breiten Boden des praktischen Bedürfnisses” sich ansiedelt.15Diese Zwitterstellung zwischen Poesie (als Reich des schönen Scheins) und Prosa (als Bereich der kunstfernen Realität) nehmen nun auch Parodie und Travestie als Subklassen der Satire ein (vgl. den nachfolgenden § 924). Es bedarf nun rezeptionsgeschichtlich nur noch der Aufkündigung des dialektischen Prinzips, das der Systematik Vischers durchaus zugrunde liegt, um somit Formen wie die Parodie und Travestie als „Aftergattungen” und als ‚Nachäffungshaltungen’ in Mißkredit zu bringen und aus der sog. seriösen Literaturgeschichtsschreibung auszuschließen.

Tatsächlich hat der von Vischer lediglich in einen schlagenden Gedanken gebrachte Aspekt die Auffassung und Bewertung von Parodie, Travestie usw. in der akademischen Literaturgeschichte seit ihren wissenschaftlichen Anfängen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchgehend beherrscht. Sie hat allzu willig die Bewertung der deutschen Klassik sich zueigen gemacht und immer wieder mit Vorliebe Goethes Verdikte über die Parodie und Travestie zitiert und zur Grundlage ihrer eigenen Maßstäbe avancieren lassen. Eines dieser Verdikte lautet beispielsweise in einem Brief Goethes an Carl Friedrich Zelter vom 26. Juni 1824 folgendermaßen:

„Wie ich ein Todfeind sey von allem Parodiren und Travestiren hab’ ich nie verhehlt; aber nur deswegen bin ich’s, weil dieses garstige Gezücht das Schöne, Edle, Große herunterzieht um es zu vernichten; ja selbst den Schein seh’ ich nicht gern dadurch verjagt”. (26. Juni 1824; vgl. Verweyen/Witting: „Walpurga”, S. 473)

Zudem: In einer Studie „Über die Parodie bei den Alten” – sie stammt ebenfalls aus dem Jahre 1824 – setzt Goethe das Satyrspiel, das die antike Theateraufführung der Tetralogie beschließt, in scharfen Gegensatz zur neueren Komik:16

„Wir haben uns also bei jenen als Nachspiel gegebenen heiteren Stücken der Alten keineswegs ein Possen- und Fratzenstück nach unserer Art, am wenigsten aber eine Parodie und Travestie zu denken [...] Nein, bei den Griechen ist alles aus einem Stücke, und alles im großen Stil. [...] Hier findet sich auch keineswegs der parodistische Sinn, welcher das Hohe, Große, Edle, Gute, Zarte herunterzieht und ins Gemeine verschleppt, woran wir immer ein Symptom sehen, daß die Nation, die daran Freude hat, auf dem Wege ist, sich zu verschlechtern; vielmehr wird hier das Rohe, Brutale, Niedrige, das an und für sich selbst den Gegensatz des Göttlichen macht, durch die Gewalt der Kunst dergestalt emporgehoben, daß wir dasselbe gleichfalls als an dem Erhabenen teilnehmend empfinden und betrachten müssen.”

Wenn ich sagte, daß Goethes Parodie- und Travestie-Verdikt von der akademischen Literaturgeschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts beflissen aufgenommen worden ist, so brauche ich an dieser Stelle den Beweis dafür nicht mehr anzutreten: Er ist an anderer Stelle, in Buchform, von Gunther Witting und mir angetreten worden.17Nur ein einziges Zeugnis sei hier noch kurz angeführt (es erinnert in vielem an die Invektive von Börries von Münchhausen). Das Zeugnis stammt aus einem Aufsatz von 1881:

H. Blümner (in: Verweyen/Witting, Die Parodie, 1979, S. 43):

„[Die Parodien und Travestien] nehmen in der Hierarchie der poetischen Gattungen eine sehr untergeordnete Stelle ein. Wir sind gewöhnt, diese Producte der komischen Muse möglichst fern von uns zu halten, und wenn wir auch vielleicht einstmals als Gymnasiasten, mit der Lectüre Virgils geplagt, uns daran ergötzten, daß Blumauer die Heldenthaten des sehr frommen und sehr langweiligen Aeneas uns in einem keineswegs respectvollen Tone wiedergab, so fanden wir doch, zu reiferem Urtheile gelangt, die meisten dieser Späße albern oder frivol und wandten uns ebenso von ihnen ab, wie wenn uns irgend welcher Witzbold ,zur Erheiterung der geehrten Gesellschaft‘ eine Parodie auf Schillers ‘Taucher‘, oder zu noch größerem Gaudium mancher Zuhörer die ‘Bürgschaft‘ im jüdischen Jargon zum Besten gab (1881, S. 379).”

Philosophische Ästhetik und akademische Literaturgeschichte, Poetik und Kunstkritik haben ebenso wie bestimmte Autoren des literarischen Höhenkamms auf unterschiedlichste Weise und dennoch in einem durchaus vergleichbaren Sinne an der Ausbürgerung der Parodie, Travestie und verwandter Formen aus dem Reich der Poesie und der Literaturkritik mitgewirkt. Eine Einschränkung muß ich dabei machen: die Feststellung gilt vor allem im Hinblick auf eine Machart des ‚Parodistischen’, die unter einem ganz bestimmten Parodiebegriff bzw. Travestiebegriff steht.

Wie alle Begriffsverwendungen der Literaturwissenschaft hat auch der Ausdruck „Parodie”, hat auch „Travestie” seine Geschichte. Diese ist zu rekonstruieren und in einen literaturwissenschaftlich brauchbaren Begriffsvorschlag klärend einzubringen, damit historisch angemessene Beschreibungen sog. ‚parodistischer’, ‚travestierender’ und ‚verwandter’ Literatur und ihrer Funktionen und Bewertungen garantiert werden können. Von diesem Gedanken aus liegt etwa folgender Vorlesungsplan nahe, den ich gleich skizzieren werde.

Zuvor noch schnell ein Wort zur Form der Darstellung in meiner Vorlesung! Wer von einer Vorlesung mit komischen Gegenständen erwartet, hier müsse es besonders komisch, gar lustig zugehen, den muß ich enttäuschen – und zwar mit einer Ermahnung Herman Meyers: An prominenter Stelle – nämlich beim Germanistentag der Internationalen Germanisten-Vereinigung – hat er schon 1965 auf die vor allem in der Germanistik damals wie heute grassierende Unart der Vermischung von Beschreibungssprache und poetischer Sprache hingewiesen:18

„Zur Unsicherheit des Normgefühls scheint mir auch die unter Literaturwissenschaftlern nicht selten bemerkbare Neigung zu sprachlicher Identifizierung mit dem Untersuchungsobjekt zu gehören, mit unklarem Bewußtsein der möglichen Grenzen wissenschaftlicher Prosa. Ein Biologe, der über die Sprache der Fledermäuse schreibt, bedient sich dazu in seinen wissenschaftlichen Darlegungen noch nicht der Fledermaussprache. Ebensowenig ist es notwendig oder angängig, daß der Hölderlin-, George- oder Rilke-Forscher sein Idiom und seine ganze Sprachführung Hölderlinisch, Georgisch oder Rilkisch färbt. Von Vergleichbarem in der Homer-, der Shakespeare- oder Vondel-Forschung ist mir nichts bekannt.”

Soweit Herman Meyer! Seine Ermahnung hat natürlich nichts von ihrer Aktualität und Plausibilität eingebüßt – im Gegenteil. Und ich spreche mithin ernst über Komik! Ich werde also nicht „g’spaßig” über Lustiges sprechen, vielmehr eine Seriösität der Darstellung und Darstellungsebene suchen, die nicht mit den Objektwelten der Komik, Kritik, Literaturverarbeitung vermischt erscheint.


1 Th. Verweyen und G. Witting: Die Parodie in der neueren deutschen Literatur. Eine systematische Einführung, Darmstadt 1979, S. 207 (im weiteren: Verweyen/Witting: Die Parodie, 1979). Vgl. B. v. Münchhausen: Meisterballaden. Ein Führer zur Freude, Stuttgart 1958, S. 115-117.
2Goethe, Werke, HA 3, 51960, S. 390f.
3Vgl. den Abdruck in: Goethe, Werke, HA 1, 41958, S. 79f.
4Vgl. Clemens Brentano: Gedichte, hrsg. v. Wolfgang Frühwald, Bernhard Gajek u. Friedhelm Kemp, München 1977 (= dtv 6069), S. 689; ebd. auch die Tagebuchnotiz Eichendorffs.
5Ebd., S. 689.
6Max Kommerell: Drei Balladen des jungen Goethe, in: Deutsche Lyrik von Weckherlin bis Benn. Interpretationen, hrsg. v. Jost Schillemeit, Bd. 1, Frankfurt a.M./Hamburg 1965, S. 40.
7Ebd., S. 43f.
8Goethe, Werke, HA 3, 51960, S. 89.
9Brentano, Gedichte, S. 164f.
10C.F.D. Schubart: Deutsche Chronik, Augsburg 1774, 5. Dez. 1774, S. 574f. (= Reprogr. Heidelberg 1975 = Deutsche Nachdrucke, Reihe: Goethe-Zeit).
11Sturm und Drang. Dichtungen und theoretische Texte in 2 Bdn., ausgew. v. Heinz Nicolai, Bd. 1, München 1971, S. 864-866.
12Goethe/Nicolai: Werther, Dortmund 1978 (= Die bibliophilen Taschenbücher Nr. 20), S. 21.
13Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, 2 Teile, Leipzig 1773-1775, 2. Teil, S. 394f.: Art. „Parodie”.
14Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik, Bd. 6, München 21923, S. 358f.: § 923.
15Ebd., S. 360: § 923.
16Goethe: Über die Parodie bei den Alten (1824), in: SW, Jub.-Ausg. 37, S. 291f.
17Verweyen/Witting: Die Parodie, 1979, bes. S. 38-55.
18Herman Meyer: Tradition und Ursprünglichkeit in Sprache und Literatur (Rede zur Eröffnung der IVG 1965), in: Werner Kohlschmidt u. H. M. (Hrsg.), Tradition und Ursprünglichkeit. Akten des III. Internationalen Germanistenkongresses 1965 in Amsterdam, Bern/München 1966, S. 18-25, hier S. 24.

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Created: 20.09.1997
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