Theorie und
Geschichte der Parodie / Teil I
von Theodor
Verweyen
Die Vorlesung habe ich seit meinem Heidelberger
Semester 1977 in den akademisch üblichen Abständen gehalten -
zum letzten Mal im Sommersemester 1997 an der Universität Erlangen-Nürnberg.
Diese am weitesten ausgearbeitete Erlanger Version wurde von Sabine Hülse-Scholl
für die Erlanger Digitale Edition bearbeitet. Der Vorlesung
liegen die gemeinsam mit Gunther Witting unternommenen und in einer Reihe
von Publikationen veröffentlichten Untersuchungen zur Parodie und
zu 'verwandten' Schreibweisen wie Travestie, Kontrafaktur, Cento, Pastiche
und Palinodie zugrunde. Die Korrekturlesung der Internet-Version wurde
am 05.07.2001 abgeschlossen. (Th.V.)
Inhaltsverzeichnis:
I.
Einführung und Begründung des Vorlesungsgegenstandes
II.
Begriffsgeschichten und Begriff:
1. „Parodie”: Geschichte der Wortverwendung
II.
Begriffsgeschichten und Begriff:
2. „Kontrafaktur”: Terminologische
Erneuerung eines Begriffs der Literaturgeschichte
II.
Begriffsgeschichten und Begriff:
3. Terminologische Entscheidungen
zu „Parodie” und „Kontrafaktur”
II.
Begriffsgeschichten und Begriff:
4. Parodie und Urheberrecht
III.
Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer
Zeit‘
III.
Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer
Zeit‘ / 1. Die pseudo-homerische „Batrachomyomachia” als Beispiel hellenistischer
Epos-Parodie
III.
Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer
Zeit‘ / 2. Die Parodie im Mittelalter: am Beispiel parodistischer Verarbeitungen
in Heinrich Wittenwilers „Der Ring”
III.
Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer
Zeit‘ / 3. „Die Dunkelmännerbriefe” („Epistolae obscurorum virorum”):
ein Beispiel humanistischer Satire und Parodie
III.
Geschichte der literarischen Parodie:
Parodistische Paradigmen ‘vor unserer
Zeit‘ / 4. Parodie und Travestie im barocken Roman: Grimmelshausens „Simplicissimus
Teutsch”
IV.
Geschichte der neueren deutschen Parodie
IV.
Geschichte der neueren deutschen Parodie:
1. Friedrich Nicolai: „Eyn feyner
kleyner Almanach” - Parodie aus dem Geist der Aufklärung
IV.
Geschichte der neueren deutschen Parodie:
2. Die Parodie als Klassik-kritisches
Mittel: am Beispiel einer Schiller-Parodie A.W. Schlegels aus der Zeit
um 1800
IV.
Geschichte der neueren deutschen Parodie:
3. Parodistische Literaturkritik im
19. und 20. Jahrhundert: von Ludwig Eichrodt bis Eckhard Henscheid
Literaturhinweise
Lenore
fuhr ums Morgenrot
Die Parodie-Sammlung der Erlanger
Liste.
I.
Zur Einführung und Begründung des Vorlesungsgegenstandes: Geschichten
der Bewertung kritischer Literaturverarbeitungen
Brief des Börries von Münchhausen:1
„Ich bin ein
erbitterter Feind aller derjenigen Parodien, die eine Veralberung und Verunglimpfung
eines großen Kunstwerkes bedeuten, und habe mich darüber ja
in dem Schiller-Aufsatz meiner ‘Meisterballaden‘ heftig genug ausgesprochen.
So konnte man etwa zwanzig Jahre lang nicht vom Erlkönig sprechen,
ohne daß sofort einige der Anwesenden ins Lachen gerieten und anfingen,
einem eine ekelhafte sächsische Veralberung dieses großen Kunstwerkes
unseres Volkes herzusagen. Ähnlich ist es manchen Schillerschen Balladen
gegangen, z. B. dem Handschuh, in dem die Schüler jeder Zeile abwechselnd
zwei an sich belanglose Wörter anhingen, die immer von Zeit zu Zeit
dem Gedichte einen unanständigen Inhalt unterlegten. Durch solche
Parodien werden große Kunstwerke unseres Volkes beschmutzt, nicht
anders, als eine Marmorstatue, der die Gassenbuben gewisse Körperteile
anmalen, oder die Reproduktionen wertvoller Bilder in den Journalzirkeln,
die von bösartigen Laffen durch aufgemalte Schnurrbärte, etwa
an Leonardos wundersamem Mädchenbildnis, beschimpft werden. Wer mir
eine Mark aus der Tasche stiehlt, der wird mit Gefängnis bestraft,
wer aber ein großes Gedicht, d. h. einen der höchsten und seltensten
Kulturschätze unseres Volkes durch eine solche Parodie verunglimpft,
geht straffrei aus, obgleich die zwangsläufige Erinnerung an den Unfug
einem das Werk auf Jahre hinaus unmöglich macht. – Neben diesen bösartigen
Parodien, die sich immer auf ein einzelnes Werk beziehen, steht eine zweite
Art, die streng davon zu unterscheiden ist. Sie verunglimpft nicht ein
einzelnes Gedicht, sondern sucht ein neues Werk zu schaffen, das die Eigenart
des Dichters zur Manier steigert. Es handelt sich hier also um eine beinahe
wissenschaftliche Aufgabe: Alle Eigentümlichkeiten des Dichters übertreibend
so zusammenzufassen, daß ein humoristischer Eindruck entsteht. Bei
den bösartigen Verunglimpfungen ist es ganz gleichgültig, ob
der Täter künstlerische Fähigkeiten besitzt oder nicht,
– wer mir den Dolch zwischen die Schultern stößt, mag das kunstgerecht
wie ein Metzger oder Chirurg tun, oder aber kunstlos wie der Straßenräuber,
– das ist gleichgültig gegenüber der Tatsache der Körperverletzung.
Wer aber eine Parodie der zweiten Art schreibt, der muß nicht nur
ein feiner Kenner des gesamten Werkes, ja beinahe Philologe sein, sondern
auch über eine hohe dichterische Gabe, mindestens dichterische Technik
verfügen, wenn das Werk einem Gebildeten gefallen soll (1943, S. 7f.).”
Das soeben Vorgelesene gibt nicht meine
Ansicht wieder. Es ist Zitat. Ich habe diesen etwas längeren Auszug
vorausgeschickt, damit von vornherein Klarheit herrsche, wovon in dieser
Stunde und im Laufe des Semesters die Rede sein soll. Der auszugsweise
angeführte Text stammt aus einem Brief, den Ernst Heimeran, Münchner
Verleger und Herausgeber einer Parodie-Anthologie, im Vorwort eben seiner
Textsammlung abgedruckt hat. Die Sammlung hat den sprechenden Titel „Hinaus
in die Ferne mit Butterbrot und Speck. Die schönsten Parodien auf
Goethe bis George” und erschien 1943. Den Brief an Heimeran schrieb Börries
Freiherr von Münchhausen, jener von 1874 bis 1945 lebende Autor, der
angeblich als bedeutendster deutscher Balladendichter des 20. Jahrhunderts
in die Annalen der deutschen Literaturgeschichte eingegangen ist. In diesem
Brief wird dem Herausgeber Heimeran sogar geraten, die Sorte der ‚veralbernden’
und ‚verunglimpfenden’ Parodien in der geplanten Anthologie unberücksichtigt
zu lassen: zweifellos ein Zeugnis der skandalisierenden Wirkung komischer
Text- und Bildverarbeitungen.
Kümmern wir uns fürs erste
noch nicht um die - möglicherweise gar nicht einmal sinnvolle – Unterscheidung
zwischen ‚verunglimpfender’ und, wie es für gewöhnlich heißt,
‚bloß’ komischer Nachahmung. Machen wir uns zunächst einmal
klar, wovon in Münchhausens Brief überhaupt die Rede ist. Ausgangspunkt
sollte mithin ein Text sein, der in direkter Beziehung zum Metier Münchhausens
steht, also zum Metier der Balladenkunst, und dabei allen Vorwürfen
gerecht wird, die der sog. ‚Meister’ der balladesken Kunst gegen den Kunstattentäter
erhebt. Das soll hier eine Parodie von keinem Geringeren als Clemens Brentano
aus dem Jahre 1803 sein (vgl. Verweyen/Witting: „Walpurga”, S. 92):
Es saß
der Meister vom Stuhle,
Gar frech im
eignen Kot,
Wer wagt sich
zu dem Pfuhle,
Es tun ihm Prügel
not,
Wer schmeißt
mich über und über,
Wer bläst
das Licht mir aus,
Wer giebt mir
Nasenstüber,
Wer schickt
mich recht nach Haus.
Und kömmt
er einst zum sterben,
So stirbt sein
ganzes Reich,
Die Frösche
all verderben,
Krepiert er
in dem Teich.
Er saß
einst an der Saale,
Nun sitzt er
auf dem Sand,
Und hat bei
seinem Mahle
Die Esel all
zur Hand.
Da sitzt er,
keiner frecher,
Und platzet
fast vor Wut,
Und reicht den
giftigen Becher
Sich selbst
und seiner Brut.
Wir sehn ihn
platzen, sinken
Und stinken
in eigner Schmer,
Laßt ihn
nur aus sich stinken,
Dann stinkt
es nimmermehr.
Man wird seine Schwierigkeiten mit
dem Verständnis dieses Textes haben, solange nicht die Vorlage mitrealisiert
ist, die Gegenstand des komischen ‚Attentats’ von Brentano wurde – hier
entgegen der Befürchtung Börries von Münchhausens einmal
nicht Goethes naturmagische Ballade „Erlkönig”, auch nicht Schillers
Gedicht „Der Handschuh”; diesmal ist es das sog. „Thule”-Gedicht aus dem
ersten Teil des „Faust” (HA 3, S. 390f.):2
Es war ein König
in Thule,
Einen goldnen
Becher er hätt‘
Empfangen von
seiner Buhle
Auf ihrem Todesbett.
Der Becher war
ihm lieber,
Trank draus
bei jedem Schmaus;
Die Augen gingen
ihm über,
So oft er trank
daraus.
Und als es kam
zu sterben,
Zählt‘
er seine Städt und Reich,
Gönnt alles
seinen Erben,
Den Becher nicht
zugleich.
Er saß
beim Königsmahle,
Die Ritter um
ihn her,
Auf hohem Vätersaale
Dort auf dem
Schloß am Meer.
Dort stand der
alte Zecher,
Trank letzte
Lebensglut
Und warf den
heil‘gen Becher
Hinunter in
die Flut.
Er sah ihn stürzen,
trinken
Und sinken tief
ins Meer,
Die Augen täten
ihm sinken,
Trank nie einen
Tropfen mehr.
Ich habe das Gedicht in einer der frühen
Fassungen vorgelesen. Entstanden 1774, ging es in die Szene „Abend” der
Gretchenszenen-Folge des „Faust in der ursprünglichen Gestalt” von
1775/76 ein. Das Gedicht erfuhr eine durchgreifende Bearbeitung bei der
Veröffentlichung des „Faust, ein Fragment” im Jahre 1790. Die „Urfaust”-Version
der „Thule”-Ballade, die ich zu Gehör gebracht habe, konnte dem Parodisten
Brentano allerdings kaum bekannt sein. Der „Urfaust” nämlich war nur
durch die Abschrift des Hoffräuleins Luise von Göchhausen erhalten
geblieben und erst 1887 – wohlgemerkt erst 1887 – im Nachlaß des
Fräuleins entdeckt worden. Freilich gab es neben der Fassung von 1790
noch andere Überlieferungen, an die Brentano anknüpfen konnte:
so erschien Goethes Gedicht etwa 1782 in der 3. Sammlung „Volks- und andere
Lieder ... in Musik gesetzt von S. v. Seckendorff”3;
ferner unter den Gedichten in den „Neuen Schriften” Goethes von 1800. Der
in Musik gesetzte Text von 1782 weicht dabei nur wenig von der frühen
„Faust”-Version der Ballade ab, während die spätere Fassung von
1800 ganz nahe an die überarbeitete „Faust”-Gestalt des Jahres 1790
heranführt.
Es ist nun sehr wahrscheinlich, daß
Brentano die Ballade in der in Musik gesetzten Weise von 1782 kennenlernte.
Wie Luise Hensel, eine enge Vertraute des Dichters während seiner
Berliner Zeit, zu berichten weiß, war Goethes Lied ein „Lieblingsgesang”
Brentanos, den er „ungemein schön zu seiner viersaitigen Guitarre”
sang; auch Joseph von Eichendorff berichtet in seinem Tagebuch am 24. Dezember
1809 über Brentanos Gesang:
„Im Februar besuchte
uns einmal der herrliche Brentano. Sein Weltauslachen und sogenannte Grobheit
bis zum göttlichen Wahnsinn. Er spielte Guitarre. Sein Bettler, blau,
blau, König von Thule etc.: himmlisch ...”.
Schon im Frühling 1801 schreibt
Brentano selbst:4
„Ich war mit
Savigny am Rhein und stand, wo ich sonst stand, und werde den Frühling
mit ihm im Schlosse der Gisella wohnen, wir sind die innigsten Menschen.
Als ich oben auf dem Punkte der Aussicht stand, war mein Herz bewegt, und
ich bin so begeistert gewesen wie nie und sang mit Andacht: Ich bin
ein König in Thule.”
Jüngere Forschung hebt in diesem
Zusammenhang Brentanos eigenwillige Aufnahmefähigkeit hinsichtlich
der literarischen Kunst hervor: dieser habe sich hier wie so oft durch
Textänderungen das Gedicht Goethes so völlig anverwandelt, daß
‚Thule’ in seinem eigenen Werk Metapher für das Reich der Phantasie
und ‚der Becher’ des Königs von Thule Symbol des irdischen Glücksverlangens
geworden sei.5
In diesem Kontext muß nun freilich
– und damit komme ich auf mein Hauptgeschäft zurück – die kritische
Bearbeitung, die Parodie der „Thule”-Ballade durch und durch befremdlich
wirken. Wie kann es möglich sein, so werden Sie sich gewiß fragen,
daß ein in dieser von Respekt, ja Bewunderung und Zuneigung getragenen
Textzuwendung, ein in dieser Art dem literarischen und dichterischen Haushalt
Brentanos einverleibter Text so der parodistischen Verfremdung durch denselben
Autor ausgesetzt wird? Zum befremdlichen Tatbestand kommt ein für
den Liebhaber von Gedichten schmerzlicher Sachverhalt hinzu.
Max Kommerell, ein ebenso begnadeter
wie eigenwilliger Interpret deutscher Dichtung, hat in eindringlichen Gedanken
den Adel der balladesken Gattung, „der sie über den Bänkelsang
erhebt”, herausgearbeitet – eine Dignität, so Kommerell, durch die
sich eben die Dignität der Ballade zu der des Bänkelsangs verhalte
„wie Dichtung zur Zeitung”. Worin besteht nach Kommerells Anschauung diese
Dignität, der Adel der Ballade? Zunächst einmal in der Eigenart,
„daß sie (die Ballade) zurückverweist”. Dabei fühlen sich
„die späteren Menschen (nicht nur) durch sie zurückverwiesen,
das Zurückverweisende ist die Ballade selbst”. Dies hängt damit
zusammen, daß „die Vergangenheit der Ballade (...) nicht chronologisch”
ist; sie ist – wie sich in der Ballade des Königs von Thule vollkommen
bestätige – „Altertümlichkeit des Geschehens, Altertümlichkeit
des Fühlens”.6
Vor dem Hintergrund dieser generellen
Überlegungen zur balladesken Gattung entwirft Kommerell nun sein Verständnis
des „König in Thule”. Auch diese Ballade sei „eines altertümlichen
Stiles mächtig”; und auch diese Ballade habe, wie die vom Heidenröslein
aus dem Jahr der „Thule”-Ballade, ein Wort, das herausfällt und herausfallen
soll. Es ist das Wort „Lebensglut”:7
„dies Trinken
letzter Lebensglut, das ist weniger eine alte Gebärde als der Hinblick
auf eine alte Gebärde. Der König lebt im Nachglanz. Was er hat,
ist so wahr Vermächtnis, als er König ist. Er ist es durch diesen
Becher, er ist der König dieses Bechers zum Unterschied zu anderen
Königen. Das Gedicht erzählt von Überlieferungen. Der Becher
ist ein Pfand, das ihm die sterbende Geliebte übermacht hat. Er lebt
sich selber in diesem Becher mit seiner Jugend und seiner Liebe. Er gibt
ihn nicht weiter, er verbraucht ihn für seinen Abschied vom Leben,
und der Becher sinkt im Meer ‚trinkend’ wie ein Wesen. Niemand wird nach
ihm diesen Becher haben; er ist ein König, mit dem eine Welt stirbt.
Das Land dieses Königs ist verschollen, das Gerücht von seinem
Becher pflanzt sich fort. War er dem König ein Pfand: Gegenwart von
viel Gestorbenem in einem Ding – ist da nicht dieses Gedicht ein Pfand
des Pfandes?”
Ich habe hier M. Kommerells Gedanken
über den „König in Thule” etwas ausführlicher referiert
und zitiert, damit die Grundlagen angedeutet sind, aus denen der skandalisierende
Effekt der Parodie Brentanos letztlich hervorgeht. Ich kontrastiere nun
noch einmal Vorlage und Verarbeitung, um jenen Effekt entstehen zu lassen.
Zunächst das M. Kommerell zu solchen Gedanken anregende Original:
jetzt in der klassisch gedämpften, stilistisch geglätteten Fassung;
danach sein parodistisches Gegenstück von Brentano:
Goethe:8
Es war ein König
in Thule
Gar treu bis
an das Grab,
Dem sterbend
seine Buhle
Einen goldnen
Becher gab.
Es ging ihm nichts
darüber,
Er leert‘ ihn
jeden Schmaus;
Die Augen gingen
ihm über,
So oft er trank
daraus.
Und als er kam
zu sterben,
Zählt‘
er seine Städt‘ im Reich,
Gönnt‘
alles seinem Erben,
Den Becher nicht
zugleich.
Er saß
beim Königsmahle,
Die Ritter um
ihn her,
Auf hohem Vätersaale,
Dort auf dem
Schloß am Meer.
Dort stand der
alte Zecher,
Trank letzte
Lebensglut,
Und warf den
heiligen Becher
Hinunter in
die Flut.
Er sah ihn stürzen,
trinken
Und sinken tief
ins Meer,
Die Augen täten
ihm sinken,
Trank nie einen
Tropfen mehr.
Brentano (in: Verweyen/Witting, „Walpurga”,
S. 92):9
Es saß
der Meister vom Stuhle,
Gar frech im
eignen Kot,
Wer wagt sich
zu dem Pfuhle,
Es tun ihm Prügel
not,
Wer schmeißt
mich über und über,
Wer bläst
das Licht mir aus,
Wer giebt mir
Nasenstüber,
Wer schickt
mich recht nach Haus.
Und kömmt
er einst zum sterben,
So stirbt sein
ganzes Reich,
Die Frösche
all verderben,
Krepiert er
in dem Teich.
Er saß
einst an der Saale,
Nun sitzt er
auf dem Sand,
Und hat bei
seinem Mahle
Die Esel all
zur Hand.
Da sitzt er,
keiner frecher,
Und platzet
fast vor Wut,
Und reicht den
giftigen Becher
Sich selbst
und seiner Brut.
Wir sehn ihn
platzen, sinken
Und stinken
in eigner Schmer,
Laßt ihn
nur aus sich stinken,
Dann stinkt
es nimmermehr.
Über Brentanos parodistisches
Gegenstück selbst möchte ich an dieser Stelle noch nichts sagen:
noch nichts über das Verfahren der Ersetzung eines ‚erhabenen’ Gegenstandes
durch einen ‚niedrigen’, deutlich negativ konnotierten Gegenstand; noch
nichts über das merkwürdige ‚Zersingen’ des Vorbildliedes, das
das genaue Gegenteil der Einheit aller Teile, nämlich Desintegration,
bewirkt; noch nichts über die aus sog. niederen Sprachbereichen und
Sprachtraditionen entlehnten Bilder und lexikalischen Bestände wie
„Leibstuhl” und „Kot” und „Prügel”, „jemandem das Licht ausblasen”,
„krepieren” und „Frösche” und „Brut”, „platzen”, „stinken” und „Schmer”.
Darüber spreche ich an anderer Stelle. Heute geht es mir darum, zu
zeigen, daß in der Regel dann geglückte Kommunikation über
Parodien eingetreten ist, wenn die Leser sich so aufgeregt zeigen, wie
es Börries von Münchhausen in dem eingangs zitierten Brief tat;
ich möchte ferner zeigen, welche Folgen diese primären Kommunikationsakte
für die literaturwissenschaftliche Einschätzung solcher Gegenstände
wie Parodie, Travestie, Pastiche, Kontrafaktur usw. zeitigten. Zunächst
aber stelle ich einige weitere Fälle dieser Art aus dem literarischen
Leben vor.
Im Herbst 1774 erscheint anonym in
der Weygandschen Buchhandlung zu Leipzig eine, wie der streitbare Hamburger
Hauptpastor Melchior Goeze, der Kontrahent etwa Lessings, abkanzelte, „des
Fluchs würdige Schrift”: „Die Leiden des jungen Werthers” – die Schrift,
die ebenso leidenschaftlich verschlungen wie drastisch kritisiert wurde.
Ein Beispiel für die erste Art der Aufnahme etwa durch Christian Friedrich
Schubart, den unbeugsamen Fürsten- und Jesuitenkritiker, der 1758
hier in Erlangen Theologie studiert hat; in der „Deutschen Chronik” vom
5. Dezember 1774 outet sich der genialische Kraftkerl über Goethes
Roman:10
„Da sitz ich
mit zerfloßnem Herzen, mit klopfender Brust, und mit Augen, aus welchen
wollüstiger Schmerz tröpfelt, und sag dir, Leser, daß ich
eben die ‚Leiden des jungen Werthers’ von meinem lieben Göthe – gelesen?
– Nein, verschlungen habe. Kritisiren soll ich? Könnt ichs, so hätt
ich kein Herz. [...] Soll ich einige schöne Stellen herausheben? Kann
nicht; das hieße mit dem Brennglas Schwamm anzünden, und sagen:
Schau, Mensch, das ist Sonnenfeuer! – Kauf’s Buch, und lies selbst! Nimm
aber Dein Herz mit!”
Während die Kurfürstlich-Sächsische
Bücherkommission am 30. Januar 1775, einem Begehren der theologischen
Fakultät zu Leipzig folgend, den Vertrieb des Buches „bey Zehen Thaler-Strafe
hierdurch, bis auf weitere Verordnung, ausdrücklich untersaget” und
dadurch geradezu eine Garantie für den bestsellerhaften Erfolg des
Romans gab, erstand den „Leiden Werthers” in der Berliner Gruppe der Aufklärungsphilosophen
um Friedrich Nicolai eine Kritik, die sich beispielsweise der literarischen
Formen der Travestie und Parodie bediente und genau darin den nervus rerum
der fieberhaften Aufnahme des Romans treffen konnte – durch Kritikformen
also, die sich besonders dazu eignen, pathoshaltige Züge eines Werkes
durch banal-komische Substitutionen herabzustimmen. In Friedrich Nicolais
Travestie mit parodierenden Zitationsverfahren, die Anfang 1775, also wenige
Monate nach Goethes Werk erschien, schlägt sich das beispielsweise
in einem Coup aus der Schmierenkomödie nieder: Werther ‚streckt’ sich
mit einer mit Hühnerblut gefüllten Pistole ‚nieder’, um sich
nach dem Verzichtsversprechen Alberts, der die Idee der Blutblase überhaupt
hatte und durchführte, eiligst in die bürgerlichen Wonnen einer
Hochzeit mit Lotte zu stürzen: nach den „Freuden des jungen Werthers”
mit Gewißheit der Beginn der „Leiden Werthers des Mannes”, wenn ich
einmal die Titel der Travestien ausbeute!
Fühlen sich die Werther-Fiebernden
skandalisiert: also verhöhnt, angemacht, verarscht? Jakob Michael
Reinhold Lenz, der unglückliche Adept des Stürmers und Drängers
Goethe, faucht in seinen „Briefen über die Moralität der Leiden
des jungen Werthers” (4. Brief) vor Wut und Entrüstung:11
Vierter Brief
Nicolais Parodie
ein Meisterstück? – Eine Schande seines Herzens und seines Kopfs.
Was geht mich hier der Verfasser des „Nothankers” an, ich will‘s Ihnen
beweisen.
Es hätte
Sie zu lachen gemacht? – Mich auch, aber wie Demokriten mit Hohngelächter.
Wenn man mit einer vielbedeutenden Miene die allerelendesten Plattheiten
auskramt, was kann das anders erregen als Unwillen und Hohngelächter.
Der ganze Wisch
ist so unwitzig, so furchtsam, so hergestottert für eine Pasquinade,
die Erfindung mit der Blutbiase so armselig, die Scheidungen Werthers und
Lottens so wenig in ihren Charakter hineingedacht, daß ich hier wohl
die sonst ironischen Verse Popens in eigentlichem Verstande brauchen möchte
[...]
Wie denn? Lotte
– nach der Anlage – einem solchen Kerlchen wie er beschreibt Gehör
geben, um – Werthern wehe zu tun, der unter der Last der öffentlichen
Geschäfte schmachtete? Pfui mit welchen elenden Ideen muß der
Mann von dem Buch aufgestanden sein, ich möcht um aller Welt Güter
willen in dem Augenblick nicht mit seinem Herzen getauscht haben.
Soll er da vielleicht
das Meisterstück bewiesen haben, da er die ganze Geschichte so schön
durcheinanderzettelt, daß das Hinterste zuvorderst kommt, Szenen
die nach der Verheuratung vorgingen, vor die Verheuratung setzt und damit
möcht ich sagen die Seele der ganzen Rührung herauszieht und
alles zur elendesten Karikatur macht? Hat der Mensch auch wohl bedacht,
was für Hindernisse sich gleich anfangs der Verbindung Werthers mit
Lotten entgegenstellten und wie tief und unveränderlich unvermeidlich
Werther das empfinden mußte, um Werther zu werden. Das gegebene Versprechen,
das öffentliche Amt Alberts kurzum nichts mehr und nichts weniger
als die ganze Ruhe und das ganze Glück seiner Lotte selber. Und wie
die anwachsende Empfindung der Unmöglichkeit Lotten jemals zu besitzen,
diese heilige moralische Empfindung der Unverletzlichkeit des ehelichen
Verhältnisses, nur und allein ihn zu dem verzweifelten Entschluß
hinaufschrauben konnte. Und wie alles sogleich elende jämmerliche
Fratze wird, was sonst das Angesicht eines leidenden Engels war, sobald
diese Bedingung wegfällt, diese unübersteiglichen Schwürigkeiten
wegfallen. In der Tat ein Meisterstück eines parodierenden Pasquillanten,
wenn er nur sonst Witz und Herz genug hätte Pasquillant zu sein. So
aber da er unter der Larve eines von den sieben Weisen erscheint, und doch
alle Kunstgriffe eines Pajaß gebraucht – wer kann ihn da ohne Unwillen
sehen Kapriolen schneiden.
Nun aber habe
ich auch gesagt, daß die Schrift seinem Herzen Schande mache. Welcher
Schriftsteller der imstande ist den Wert eines Genies nur einigermaßen
zu erkennen und zu fühlen, welcher Schriftsteller hat das Herz zu
sagen: ein Genie ist ein schlechter Nachbar. Ihm die bittere Kränkung
ins Herz zu schieben, seine Schriften zeigen von vielen großen Talenten,
aber sie schaden dem Publikum und das ganz gelassen zu sagen. [...]
Wie wenn ich
das Blatt umkehrte und ihm nicht ganz gelassen, sondern mit vieler Hitze
bewiese, seine kalte und abgeschmackte Parodie habe dem Publikum (ich meine
dem seinigen) in eben dem Maße geschadet, als ihm die Lesung der
„Leiden des jungen Werthers” Nutzen gebracht haben würde.
J.M.R. Lenz’ an Nicolai adressierter
Vorwurf mangelnder Einfühlung, banal-komischer Ersetzungen, trivialisierender
Verharmlosung, unproportionaler Dekomposition braucht hier noch nicht unser
Interesse zu binden. Auf den Tonfall der Reaktion auf die Kritik kommt
es uns an – und der ist eindeutig: gereizt! Er entspricht darin durchaus
den Reaktionen Goethes selbst, etwa in einer Klage gegenüber Auguste
Gräfin zu Stolberg im März 1775:
„Ich bin das
Ausgraben und Sezieren meines armen Werthers so satt. Wo ich in eine Stube
trete find ich das Berliner ppp Hundezeug [...]”.
(Erläuterung: ppp =undsoweiterundsoweiter)
Gemeint sein könnte damit auch
eine Travestie wie die von Heinrich Gottfried Bretschneider (in der Anthologie
„Walpurga”, S. 70-76):
Eine entsetzliche
Mordgeschichte von dem jungen Werther.
wie sich derselbe
den 21 December durch einen Pistolenschuß eigenmächtig ums Leben
gebracht.
Allen jungen
Leuten zur Warnung, in ein Lied gebracht, auch den Alten fast nutzlich
zu lesen.
Im Thon:
Hört zu
ihr lieben Christen 1776.
1.
Hört zu
ihr Junggesellen
Und ihr Jungfräulein
zart
Damit ihr nicht
zur Höllen
Aus lauter Liebe
fahrt.
2.
Die Liebe, traute
Kinder!
Bringt hier
auf dieser Welt
Den Heil‘gen
wie den Sünder
Um Leben Gut
und Geld.
3.
Ich sing euch
von dem Mörder,
Der sich selbst
hat entleibt
Er hies: der
junge Werther
Wie Doctor Göthe
schreibt.
4.
So witzig, so
verständig
So zärtlich
als wie er
Im Lieben so
beständig
War noch kein
Sekretair.
5.
Ein Pfeil vom
Liebesgotte
Fuhr ihm durchs
Herz geschwind
Ein Mädchen,
sie hies Lotte
War eines Amtmanns
Kind.
6.
Die stand als
Vice-Mutter
Geschwistern
treulich vor
Und schmierte
Brod mit Butter
Dem Fritz und
Theodor.
7.
Dem Liesgen
und dem Kätgen
So traf sie
Werther an
Und liebte gleich
das Mädgen
Als wär‘s
ihm angethan.
8.
Wie in der Kinder
Mitte
Sie da mit munterm
Scherz
Die Butterahmen
schnitte -
Da raubt‘ sie
ihm das Herz.
9.
Er sah, beklebt
mit Rotze
Ein feines Brüderlein
Und küßt‘
dem Rotz zum Trotze
An ihm, die
Schwester sein.
10.
Fuhr aus, mit
ihr zu tanzen
Wohl eine ganze
Nacht
Schnit Menuets
der Franzen
Und walzte,
daß es kracht‘
11.
Sein Freund
kam angestochen
Blies ihm ins
Ohr hinein
Das Mädgen
ist versprochen
Und wird den
Albert freyn.
12.
Da wollt‘ er
fast vergehen
Spart‘ weder
Wunsch noch Fluch
Wie alles schön
zu sehen
In Doktor Göthes
Buch
13.
Kühn gieng
er, zu verspotten
Geschick und
seinen Herrn
Fast täglich
nun zu Lotten,
Und Lotte sah
ihn gern.
14.
Er bracht den
lieben Kindern
Lebkuchen, Marcipan
Doch alles konnt‘s
nicht hindern,
Der Albert wurd
ihr Mann
15.
Des Werthers
Angstgewinsel
Ob diesem schlimmen
Streich
Mahlt Doktor
Göthes Pinsel
Und keiner thut‘s
ihm gleich.
16.
Doch wollt er
noch nicht wanken
Und stets bey
Lotten seyn,
Dem Albert macht‘s
Gedanken
Ihm traumte
von Geweyhn.
17.
Herr Albert
schaute bitter
Auf die Frau
Albertin –
Da bat sie ihren
Ritter
„Schlag mich
dir aus dem Sinn.
18.
Geh fort zieh
in die Fremde
Es giebt der
Mädchen mehr –”
Er schwur beym
letzten Hemde
Daß sie
die einz‘ge wär.
19.
Als Albert einst
verreiste
Sprach Lotte
„bleib von mir”
Doch Werther
flog ganz dreiste
In Alberts Haus
zu ihr.
20.
Da schickte
sie nach Frauen
Und leider keine
kam, –
Nun hört
mit Furcht und Grauen
Welch Ende alles
nahm.
21.
Der Werther
las der Lotte
Aus einem Buche
lang
Was einst ein
alter Schotte
Vor tausend
Jahren sang.
22.
Es war gar herzbeweglich
Er fiel auf
seine Knie
Und Lottens
Auge kläglich
Belohnt ihm
seine Müh.
23.
Sie strich mit
ihrer Nase
Vorbey an Werthers
Mund,
Sprang auf als
wie ein Hase
Und heulte wie
ein Hund.
24.
Lief in die
nahe Kammer
Verriegelte
die Thür
Und rief mit
großem Jammer:
„Ach Werther
geh von mir!”
25.
Der Arme muste
weichen
Alberten dem‘s
verdroß
Konnt‘s Lotte
nicht verschweigen,
Da war der Teufel
los.
26.
Kein Werther
konnt sie schützen
Der suchte Trost
und Muth
Auf hoher Felsen
Spitzen
Und kam um seinen
Hut.
27.
Zuletzt lies
er Pistolen
Im Fall es nöthig
wär
Vom Schwager
Albert holen
Und Lotte gab
sie her.
28.
Weil‘s Albert
so wollt haben,
Nahm sie sie
von der Wand
Und gab sie
selbst dem Knaben
Mit Zittern
in die Hand.
29.
Nun konnt er
sich mit Ehre
Nicht aus dem
Handel ziehn
Ach Lotte! die
Gewehre
Warum gabst
du sie hin?
30.
Alberten recht
zum Possen
Und Lorten zum
Verdruß
Fand man ihn
früh erschossen –
Im Haupte stack
der Schuß.
31.
Es lag und das
war‘s beste
Auf seinem Tisch
ein Buch
Gelb war des
Todten Veste
Und blau sein
Rock, von Tuch.
32.
Als man ihn
hingetragen
Zur Ruh bis
jenen Tag
Begleit‘n ihn
kein Kragen
Und auch kein
Ueberschlag
33.
Man grub ihn
nicht in Tempel
Man brennte
ihm kein Licht
Mensch nimm
dir ein Exempel
An dieser Mordgeschicht!
Goethes Verärgerung über
das „Hundezeug” machte sich Luft in Spottgedichten wie dem folgenden:12
Nicolai auf Werthers
Grabe, 1775
„Freuden des
jungen Werthers”
Ein junger Mensch,
ich weiß nicht wie,
Starb einst
an der Hypochondrie
Und ward denn
auch begraben.
Da kam ein schöner
Geist herbei,
Der hatte seinen
Stuhlgang frei,
Wie‘s denn so
Leute haben.
Der setzt‘ notdürftig
sich aufs Grab
Und legte da
sein Häuflein ab.
Beschaute freundlich
seinen Dreck,
Ging wohl eratmet
wieder weg
Und sprach zu
sich bedächtiglich:
„Der gute Mensch,
wie hat er sich verdorben!
Hätt er
geschissen so wie ich,
Er wäre
nicht gestorben!”
Wird hier vom Stürmer und Dränger
Goethe nach dem Motto verfahren, daß auf einen groben Klotz ein grober
Keil gehöre, so gibt es genau zu dieser Zeit der „literarischen Revolution”,
in der die vielfältigsten Brechungen poetischer Normen auf der thematischen
wie auf der formalen Ebene vor nichts mehr zurückschreckten, auch
durchaus Stimmen aufgeklärter Ästhetiker, die mäßigend
wirken wollten: etwa Johann Georg Sulzer. Dessen „Allgemeine Theorie der
Schönen Künste” erschien in zwei Teilen 1773 bis 1775 und enthält
im zweiten Teil von 1775 einen „Parodie”-Artikel, in dem Erfahrungen Sulzers
auf einer Reise durch Frankreich festgehalten sind – Erfahrungen, wie etwa
die Tragödie in der Parodie auf französischen Bühnen behandelt
wurde. Sulzers Reaktionen sind freilich immer noch nicht entschieden genug,
obwohl er so etwas wie die kathartische Wirkung von Travestie und Parodie
kennt und durchaus schätzt: ‚kathartisch’? Das meint die „Hemmung
gewisser erhabener Ausschweifungen und des gelehrten, politischen und gottesdienstlichen
übertriebenen Fanatismus”; dennoch gilt auch für ihn:
„Man muß
es”, so Sulzer skandalisiert, „weit im Leichtsinn gebracht haben, um an
solchen Parodien Gefallen zu finden, und ich kenne nicht leicht einen größeren
Frevel als den, der wirklich ernsthafte, sogar erhabene Dinge, lächerlich
macht.” Es stünde zu befürchten, daß „durch Parodien die
wichtigsten Gedichte [d. h. Dichtungen] und die erhabensten Schriften über
wahrhaftig große Gegenstände, allmählig so lächerlich
gemacht werden, daß die ganze schönere Welt sich derselben schämte.”
Daher appelliert Sulzer in seiner Enzyklopädie der schönen Künste
auch an die deutschen Kunstrichter, „sich bey Zeiten mit dem gehörigen
Nachdruck dem Mißbrauch widersetzen” zu wollen, wobei der Vorwurf
des Mißbrauchs nach Sulzer besonders zu erheben sei, wenn ‚Parodien’
„blos zum Lustigmachen” gebraucht würden.13
Mit diesen wenigen, in der Regel empörten
Reaktionen auf parodistische und travestierende Verfremdungen von Werken
der Literatur und bildenden Kunst soll es zunächst sein Bewenden haben.
Nicht ohne Grund habe ich vor allem die Reaktionen aus solchen Zeiten der
literarischen und künstlerischen Veränderung hergenommen, in
denen die Mittel, Verfahren und Themen der Kunst eine gewisse ‚Revolutionierung’
erfuhren: eben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts oder um
die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert. Welchen Anteil an diesen literarischen
Umbrüchen Travestie, Parodie usw. wirklich haben, ist bislang übrigens
nicht hinreichend erforscht. Dieses Versäumnis aber geht nicht zuletzt
auf das gebrochene Verhältnis der philosophischen Ästhetik und
der akademischen Literaturgeschichtsschreibung gegenüber solchen Gegenständen
aus den Bereichen der literarischen Komik, des literarischen Humors, der
Ironie, der Satire, der Verballhornung etc. zurück. Das möchte
ich im folgenden noch kurz zeigen.
Ein besonders sprechendes Zeugnis für
das gebrochene Verhältnis der akademischen Kunstdeutung zu den Gegenständen
der Komik liegt uns in dem letzten großen Systementwurf einer philosophischen
Ästhetik vor: in der „Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen”
von Friedrich Theodor Vischer, dem von 1866-1877 tätigen Ordinarius
für Ästhetik und Literatur am Polytechnikum in Stuttgart und
zeitweilig auch in Tübingen. Regelmäßigen Hörern meiner
Vorlesungen brauche ich über die Bedeutung Vischers und seiner Lehr-
und Publikationstätigkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
nichts mehr zu sagen. Um so signifikanter und gewichtiger sind gerade Vischers
Beurteilungen der Formen und Verfahren komisch-kritischer Intertextualität.
Solche Formen und Verfahren der Auseinandersetzung
mit der Literatur im Medium der Literatur werden von Vischer erst im „Anhang
zur Lehre von der Dichtkunst überhaupt” besprochen und aufgeführt;
berücksichtigt erst am Ende nicht nur des sechsten und letzten Bandes,
sondern überhaupt am Rande, ja außerhalb des Systems der Künste
– und dies also nicht im Sinne des Schlußsteins eines großartigen
Bogens, sondern im Sinne einer Dislokation, einer ortlosen Freiheit. Betroffen
sind von dieser ästhetisch-theoretischen Dislokation „Satirische,
didaktische Poesie, Rhetorik”, mithin solche Bereiche der Poesie, die ins
Reich der „Prosa” (d. h. im Sinne Hegels der kunstfernen Realität)
hinübergreifen. So „entsteht eine Mischung des Schönen mit dem
Wahren und Guten, welche, obwohl nicht rein ästhetisch, doch von großer
allgemein menschlicher, geschichtlicher Bedeutung ist”. Vischer nimmt im
„Anhang” seiner Ästhetik diese und ähnliche Bestimmungen wiederholt
auf, um die Zwitterstellung von „satirischer, didaktischer Poesie, Rhetorik”
zu kennzeichnen. Eine Formulierung aus einer Reihe ‚verwandter’ Bemerkungen
führe ich hier noch an:14
„Satire und Didaktik
nebst Rhetorik gehören zu den gewaltigsten Hebeln des ethischen, politischen
Lebens und die Bewegung der Geschichte wäre ohne sie nicht zu denken.
Ihr Wesen und ihre reichen, gerade durch ihre gemischte Natur schwierigen
Formen sind daher der gründlichsten Untersuchung wert, aber in gesonderter
Behandlung oder als Anhang einer Poetik [...] Daß aber dieses Gebiet
nur einen Anhang der Lehre von der Poesie, nicht einen Teil derselben bilden
kann, bedarf längst keines Beweises mehr; eher wäre es der Mühe
wert, zu erklären, wie es kam, daß man so lange die grobe logische
Sünde der Einteilungen übersehen konnte, die das Didaktische
und Verwandte dem Epischen, Lyrischen, Dramatischen koordinierten.”
Satirische und didaktische Literatur
(mit „didaktischer Literatur” ist das weite Feld der literarischen Zweckformen
gemeint) sowie Rhetorik (mit „Rhetorik” ist das traditionsreiche, aus der
lateinischen Antike stammende Feld der Schulrhetorik gemeint) bilden nach
Vischers Systematik jenen Formenbestand, der sich auf dem Wege „in das
außerästhetische Gebiet” befindet und „auf dem breiten Boden
des praktischen Bedürfnisses” sich ansiedelt.15Diese
Zwitterstellung zwischen Poesie (als Reich des schönen Scheins) und
Prosa (als Bereich der kunstfernen Realität) nehmen nun auch Parodie
und Travestie als Subklassen der Satire ein (vgl. den nachfolgenden §
924). Es bedarf nun rezeptionsgeschichtlich nur noch der Aufkündigung
des dialektischen Prinzips, das der Systematik Vischers durchaus zugrunde
liegt, um somit Formen wie die Parodie und Travestie als „Aftergattungen”
und als ‚Nachäffungshaltungen’ in Mißkredit zu bringen und aus
der sog. seriösen Literaturgeschichtsschreibung auszuschließen.
Tatsächlich hat der von Vischer
lediglich in einen schlagenden Gedanken gebrachte Aspekt die Auffassung
und Bewertung von Parodie, Travestie usw. in der akademischen Literaturgeschichte
seit ihren wissenschaftlichen Anfängen in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts durchgehend beherrscht. Sie hat allzu willig die Bewertung
der deutschen Klassik sich zueigen gemacht und immer wieder mit Vorliebe
Goethes Verdikte über die Parodie und Travestie zitiert und zur Grundlage
ihrer eigenen Maßstäbe avancieren lassen. Eines dieser Verdikte
lautet beispielsweise in einem Brief Goethes an Carl Friedrich Zelter vom
26. Juni 1824 folgendermaßen:
„Wie ich ein
Todfeind sey von allem Parodiren und Travestiren hab’ ich nie verhehlt;
aber nur deswegen bin ich’s, weil dieses garstige Gezücht das Schöne,
Edle, Große herunterzieht um es zu vernichten; ja selbst den Schein
seh’ ich nicht gern dadurch verjagt”. (26. Juni 1824; vgl. Verweyen/Witting:
„Walpurga”, S. 473)
Zudem: In einer Studie „Über die
Parodie bei den Alten” – sie stammt ebenfalls aus dem Jahre 1824 – setzt
Goethe das Satyrspiel, das die antike Theateraufführung der Tetralogie
beschließt, in scharfen Gegensatz zur neueren Komik:16
„Wir haben uns
also bei jenen als Nachspiel gegebenen heiteren Stücken der Alten
keineswegs ein Possen- und Fratzenstück nach unserer Art, am wenigsten
aber eine Parodie und Travestie zu denken [...] Nein, bei den Griechen
ist alles aus einem Stücke, und alles im großen Stil. [...]
Hier findet sich auch keineswegs der parodistische Sinn, welcher das Hohe,
Große, Edle, Gute, Zarte herunterzieht und ins Gemeine verschleppt,
woran wir immer ein Symptom sehen, daß die Nation, die daran Freude
hat, auf dem Wege ist, sich zu verschlechtern; vielmehr wird hier das Rohe,
Brutale, Niedrige, das an und für sich selbst den Gegensatz des Göttlichen
macht, durch die Gewalt der Kunst dergestalt emporgehoben, daß wir
dasselbe gleichfalls als an dem Erhabenen teilnehmend empfinden und betrachten
müssen.”
Wenn ich sagte, daß Goethes Parodie-
und Travestie-Verdikt von der akademischen Literaturgeschichtsschreibung
des 19. und 20. Jahrhunderts beflissen aufgenommen worden ist, so brauche
ich an dieser Stelle den Beweis dafür nicht mehr anzutreten: Er ist
an anderer Stelle, in Buchform, von Gunther Witting und mir angetreten
worden.17Nur
ein einziges Zeugnis sei hier noch kurz angeführt (es erinnert in
vielem an die Invektive von Börries von Münchhausen). Das Zeugnis
stammt aus einem Aufsatz von 1881:
H. Blümner (in: Verweyen/Witting,
Die Parodie, 1979, S. 43):
„[Die Parodien
und Travestien] nehmen in der Hierarchie der poetischen Gattungen eine
sehr untergeordnete Stelle ein. Wir sind gewöhnt, diese Producte der
komischen Muse möglichst fern von uns zu halten, und wenn wir auch
vielleicht einstmals als Gymnasiasten, mit der Lectüre Virgils geplagt,
uns daran ergötzten, daß Blumauer die Heldenthaten des sehr
frommen und sehr langweiligen Aeneas uns in einem keineswegs respectvollen
Tone wiedergab, so fanden wir doch, zu reiferem Urtheile gelangt, die meisten
dieser Späße albern oder frivol und wandten uns ebenso von ihnen
ab, wie wenn uns irgend welcher Witzbold ,zur Erheiterung der geehrten
Gesellschaft‘ eine Parodie auf Schillers ‘Taucher‘, oder zu noch größerem
Gaudium mancher Zuhörer die ‘Bürgschaft‘ im jüdischen Jargon
zum Besten gab (1881, S. 379).”
Philosophische Ästhetik und akademische
Literaturgeschichte, Poetik und Kunstkritik haben ebenso wie bestimmte
Autoren des literarischen Höhenkamms auf unterschiedlichste Weise
und dennoch in einem durchaus vergleichbaren Sinne an der Ausbürgerung
der Parodie, Travestie und verwandter Formen aus dem Reich der Poesie und
der Literaturkritik mitgewirkt. Eine Einschränkung muß ich dabei
machen: die Feststellung gilt vor allem im Hinblick auf eine Machart des
‚Parodistischen’, die unter einem ganz bestimmten Parodiebegriff bzw. Travestiebegriff
steht.
Wie alle Begriffsverwendungen der Literaturwissenschaft
hat auch der Ausdruck „Parodie”, hat auch „Travestie” seine Geschichte.
Diese ist zu rekonstruieren und in einen literaturwissenschaftlich brauchbaren
Begriffsvorschlag klärend einzubringen, damit historisch angemessene
Beschreibungen sog. ‚parodistischer’, ‚travestierender’ und ‚verwandter’
Literatur und ihrer Funktionen und Bewertungen garantiert werden können.
Von diesem Gedanken aus liegt etwa folgender Vorlesungsplan nahe, den ich
gleich skizzieren werde.
Zuvor noch schnell ein Wort zur Form
der Darstellung in meiner Vorlesung! Wer von einer Vorlesung mit komischen
Gegenständen erwartet, hier müsse es besonders komisch, gar lustig
zugehen, den muß ich enttäuschen – und zwar mit einer Ermahnung
Herman Meyers: An prominenter Stelle – nämlich beim Germanistentag
der Internationalen Germanisten-Vereinigung – hat er schon 1965 auf die
vor allem in der Germanistik damals wie heute grassierende Unart der Vermischung
von Beschreibungssprache und poetischer Sprache hingewiesen:18
„Zur Unsicherheit
des Normgefühls scheint mir auch die unter Literaturwissenschaftlern
nicht selten bemerkbare Neigung zu sprachlicher Identifizierung mit dem
Untersuchungsobjekt zu gehören, mit unklarem Bewußtsein der
möglichen Grenzen wissenschaftlicher Prosa. Ein Biologe, der über
die Sprache der Fledermäuse schreibt, bedient sich dazu in seinen
wissenschaftlichen Darlegungen noch nicht der Fledermaussprache. Ebensowenig
ist es notwendig oder angängig, daß der Hölderlin-, George-
oder Rilke-Forscher sein Idiom und seine ganze Sprachführung Hölderlinisch,
Georgisch oder Rilkisch färbt. Von Vergleichbarem in der Homer-, der
Shakespeare- oder Vondel-Forschung ist mir nichts bekannt.”
Soweit Herman Meyer! Seine Ermahnung
hat natürlich nichts von ihrer Aktualität und Plausibilität
eingebüßt – im Gegenteil. Und ich spreche mithin ernst über
Komik! Ich werde also nicht „g’spaßig” über Lustiges sprechen,
vielmehr eine Seriösität der Darstellung und Darstellungsebene
suchen, die nicht mit den Objektwelten der Komik, Kritik, Literaturverarbeitung
vermischt erscheint.
1
Th. Verweyen und G. Witting: Die Parodie in der neueren deutschen Literatur.
Eine systematische Einführung, Darmstadt 1979, S. 207 (im weiteren:
Verweyen/Witting: Die Parodie, 1979). Vgl. B. v. Münchhausen: Meisterballaden.
Ein Führer zur Freude, Stuttgart 1958, S. 115-117.
2Goethe,
Werke, HA 3, 51960, S. 390f.
3Vgl.
den Abdruck in: Goethe, Werke, HA 1, 41958, S. 79f.
4Vgl.
Clemens Brentano: Gedichte, hrsg. v. Wolfgang Frühwald, Bernhard Gajek
u. Friedhelm Kemp, München 1977 (= dtv 6069), S. 689; ebd. auch die
Tagebuchnotiz Eichendorffs.
6Max
Kommerell: Drei Balladen des jungen Goethe, in: Deutsche Lyrik von Weckherlin
bis Benn. Interpretationen, hrsg. v. Jost Schillemeit, Bd. 1, Frankfurt
a.M./Hamburg 1965, S. 40.
8Goethe,
Werke, HA 3, 51960, S. 89.
9Brentano,
Gedichte, S. 164f.
10C.F.D.
Schubart: Deutsche Chronik, Augsburg 1774, 5. Dez. 1774, S. 574f. (= Reprogr.
Heidelberg 1975 = Deutsche Nachdrucke, Reihe: Goethe-Zeit).
11Sturm
und Drang. Dichtungen und theoretische Texte in 2 Bdn., ausgew. v. Heinz
Nicolai, Bd. 1, München 1971, S. 864-866.
12Goethe/Nicolai:
Werther, Dortmund 1978 (= Die bibliophilen Taschenbücher Nr. 20),
S. 21.
13Johann
Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, 2 Teile,
Leipzig 1773-1775, 2. Teil, S. 394f.: Art. „Parodie”.
14Friedrich
Theodor Vischer: Aesthetik, Bd. 6, München 21923, S. 358f.:
§ 923.
16Goethe:
Über die Parodie bei den Alten (1824), in: SW, Jub.-Ausg. 37, S. 291f.
17Verweyen/Witting:
Die Parodie, 1979, bes. S. 38-55.
18Herman
Meyer: Tradition und Ursprünglichkeit in Sprache und Literatur (Rede
zur Eröffnung der IVG 1965), in: Werner Kohlschmidt u. H. M. (Hrsg.),
Tradition und Ursprünglichkeit. Akten des III. Internationalen Germanistenkongresses
1965 in Amsterdam, Bern/München 1966, S. 18-25, hier S. 24.
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